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Die toten Mädchen von Villette

Die toten Mädchen von Villette

Titel: Die toten Mädchen von Villette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Hedström
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Zeichenlehrer findet, sie muß sich bald an einer Kunsthochschule bewerben, wir denken an Liège oder Tournai.
    Nadia und Peggy teilten ein Schlafzimmer mit zwei Fenstern zu den Feldern hinter dem Haus. Ein Bücherregal zwischen den Fenstern teilte den Raum provisorisch in zwei Teile. Das Bett links hatte einen kindlichen hellblauen Überwurf mit Disneymotiven und eine Sammlung Schmusetiere säuberlich aufgereiht am Kopfende. Aber nichts Kindliches hatten die Plakate an der Wand über dem Bett, die alle bekannte Kunstwerke darstellten. Das größte der Plakate war eine gerahmte Reproduktion von Eva Lidelius’ Gemälde »Die neue Anbetung des Lammes«.
    Das wohlbekannte Bild über dem Bett eines ermordeten Mädchens zu sehen, versetzte Martine einen Stoß in den Magen. Eva, ihre Schwiegermutter, hatte es 1961 gemalt, und sie hatte ihre Kinder als Modelle benutzt. Aus der vom Krieg verheerten, verbrannten Landschaft des Bildes blickte ein fünfjähriger Thomas treuherzig Martine an.
    Auf dem Bett rechts gab es keine Schmusetiere. Der Überwurf war rosa und volantumrandet, und die Plakate über dem Bett stellten Céline Dion und etwas dar, das aussah wie eine Boygroup mit fünf Mitgliedern. Kleider lagen über dem ganzen Bett verstreut, Röcke, Tops, ein rotes Kleid. Ein paar Kleidungsstücke waren auf dem Boden gelandet.
    – Was für eine Unordnung hat sie angerichtet, sagte Mireille verärgert, ich hatte ihr gesagt, sie soll die Sachen wegräumen …
    Sie verstummte und holte Atem, als hätte sie erst jetzt im Ernst begriffen, daß ihre Töchter nie mehr nach Hause kommen würden und daß sie jetzt
     Bewohnerin eines fremden Landes war – der verwüsteten Landschaft der Trauer, aus der alle wohlbekannten Landmarken verschwunden sind, in der jede
     alltägliche Geste, jeder alltägliche Gedanke in die Leere des Todes und der Abwesenheit mündet. Würden Mireille und Joël einander in der gemeinsamen
     Trauer stützen können, dachte Martine, oder würden Bitterkeit und Anklagen sie auseinandertreiben? Nadia wollte ja heute abend nicht ausgehen! Du
hättest freinehmen sollen!
    Plötzlich spürte Martine, daß sie es keine Minute länger aushielt. Sie mußten ohnehin jemanden schicken, um das Zimmer der Mädchen gründlich durchzugehen. Mireille Bertrand war auf Peggys Bett gesunken, aschgrau im Gesicht, als sei der Schock erst jetzt bei ihr angekommen. Die stets empathische Julie hatte sich neben sie gesetzt und ihr den Arm um die Schultern gelegt.
    – Ich gehe den Doktor holen, sagte Martine schnell und eilte die Treppe hinunter. Doktor Cordenys saß im Wohnzimmer auf dem Sofa und blätterte teilnahmslos in der Gazette de Villette. Sein Jeanshemd war falsch geknöpft, als hätte er es eilig gehabt, aus dem Bett zu kommen. Er versprach, zu bleiben und nach den Eheleuten Bertrand zu sehen und ihnen etwas zur Beruhigung zu geben, falls es nötig war.
    – Und sie müssen in die Stadt kommen und die Mädchen identifizieren, sobald Sie glauben, daß sie soweit sind, je früher, desto besser. Rufen Sie mich an, wenn Sie es wissen!
    Sie gab ihm ihre Visitenkarte und unterstrich ihre direkte Telefonnummer. Er ging die Treppe hinauf, und nach einer Weile kam Julie herunter.
    Christian stand schon auf der Dorfstraße, als sie hinauskamen.
    – Teufel auch, wie schrecklich. Die Eltern sind ziemlich alt, Sabrina war das einzige Kind, und sie haben sie förmlich angebetet. Überall waren Bilder von der Kleinen, und sie haben ununterbrochen geredet, wie hübsch sie war, was für eine phantastische Singstimme sie hatte, wie gut sie tanzte. Es ist noch nicht richtig bei ihnen angekommen, daß sie tot ist. Aber eines kann ich sagen – Sabrina Deleuze war ein Mädchen, das davon träumte, ein Star zu werden. Möchte wissen, ob das etwas mit ihrem Tod zu tun haben kann?
    Ein schmaler Streifen Rot war am Horizont im Osten zu ahnen, als sie ins Auto stiegen, um zum Justizpalast zurückzufahren. Die Mittsommernacht war vorüber.

KAPITEL 5
    Samstag, 25. Juni 1994
Villette
    – Na, Philippe, sagte Sophie, erzähl, was hast du vor?
    Sophie, Philippe und Tony saßen in der geschlossenen Bar der Blinden Gerechtigkeit, jeder mit einem Glas Wein vor sich. Thomas war nach dem Konzert nach Abbaye-Village nach Hause gefahren und hatte Tatia mitgenommen. Tatia war müde von der Reise, und Thomas war eingefallen, daß er an seinem Vortrag arbeiten und außerdem das Spiel Schweden gegen Rußland sehen wollte, das mitten in der Nacht übertragen

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