Die toten Mädchen von Villette
wurde.
Philippe lachte.
– Was meinst du, reicht das nicht, ich – ein Schwuler mittleren Alters, der eine vielversprechende Karriere verkokst hat und in einem Abrißhaus wohnt?
– Versuch nicht, mir Sand in die Augen zu streuen, sagte Sophie, und tu dir nicht selber leid, das steht dir nicht. Mir ist beim Essen aufgefallen, wie du mit dem Fuß getrommelt und die Serviette zusammengerollt hast, wenn du Tatia angeguckt hast. Auf eine Art, daß ich die Regieanweisung vor mir sah – »Philippe drückt innere Spannung aus«.
Sie beobachtete Philippe, der schweigend sein Glas drehte. Er war bei recht harter Konkurrenz einer der attraktivsten Männer, die sie je gesehen hatte, das hatte sie schon bei ihrer ersten Begegnung auf Thomas’ und Martines Hochzeitsessen vor acht Jahren gefunden. Beinah schade, daß er Männer vorzog.
Aber im Augenblick interessierte sich Sophie mehr fürTony Deblauwe, der so deutlich gezeigt hatte, daß er sie bewunderte, und der so anders war als die intellektuellen Männer, mit denen sie bis jetzt zusammengewesen war. Sie ließ sie vor ihrem inneren Auge Revue passieren, von Eskil Lind bis zu Jean-Jacques, dem französischen Dramatiker, mit dem sie vor drei Jahren gebrochen hatte. Sie waren alle egozentrisch und dominierend gewesen, jeder auf seine Weise. Die letzten Jahre hatte sie im Zölibat gelebt, na ja, beinah jedenfalls. Der einzige Mann in ihrem Leben war Daniel, ihr Sohn mit Eskil Lind, das Theaterkind, das jetzt bei der Bezirksregierung in Falun in Schweden für Umweltfragen zuständig war.
Aber Tony interessierte sie. Ihr gefielen seine breiten Schultern und die seidenweichen Haare auf seinen kräftigen tätowierten Unterarmen. Er hatte große Hände, aber keine Haare auf den Fingern. Das war gut, sie verabscheute behaarte Hände. Stimmen waren wichtig für sie, und Tonys Stimme war gut – tief, etwas rauchig. Er sah hart aus mit den kurzgeschnittenen dunklen Haaren und den dunkelblauen Augen, die wachsam und ziemlich kalt waren, außer wenn er sie anlächelte. Was er im Laufe des Abends sehr oft getan hatte. Wie alt mochte er sein? Älter als Philippe, aber etwas jünger als Sophie selbst. Aber war er frei? Er hatte einen glatten Ring am linken Ringfinger.
– Wie ist es, Tony, sagte sie, bist du verheiratet oder …?
Er sah ihr tief in die Augen. Der Zweck der Frage war kaum mißzuverstehen.
– Ich bin Witwer, sagte er, meine Frau ist vor zwei Jahren an Krebs gestorben.
– Oh, wie traurig, das tut mir leid, sagte Sophie höflich und unehrlich. Aber erzähl, was ist das für ein Projekt, das ihr beide zusammen vorhabt, oder wie, Philippe, du hast etwas von einem Geschäftsprojekt gesagt?
Philippe stellte das Glas ab und führte die Fingerspitzen zusammen, als mache er sich bereit, einen längeren Vortrag zu halten.
– Ah, unser Projekt, sagte er, das ist eine geniale Idee, die uns reich machen soll. Zumindest mich, Tony hat ja schon reichlich Geld. Es geht um Osteuropa. Weißt du etwas von Osteuropa, Sophie?
Sophie schüttelte den Kopf.
– Nein, das kann ich nicht behaupten, sagte sie. Ich habe einige Freunde in Polen und natürlich in der Tschechoslowakei, und 1990 haben wir mit meiner Inszenierung der »Tosca« in Prag und in Warschau gastiert. Ja, und außerdem werden ja oft Eskils alte Filme auf Festivals in Osteuropa gezeigt, und dann werde ich eingeladen.
Tony lachte laut, und Philippe grinste.
– Ja, aber dann weißt du ja mehr als wir, sagte er, wir können dich vielleicht anstellen, um Kontakte zu knüpfen. Also, es ist so, daß vor ziemlich genau einem Jahr auf einem Gipfeltreffen in Kopenhagen die Entscheidung getroffen wurde, die Türen der EU für die Länder Osteuropas zu öffnen.
Sophie nickte, und Philippe fuhr fort.
– Aber bevor sie hier reinkommen können, müssen sie sich den Regeln auf dem Binnenmarkt anpassen, und das gilt für alles von Staatssubventionsregeln bis zu Lebensmittelzusätzen und der Form von Traktorsitzen, gar nicht zu reden von der Landwirtschaftspolitik und der Fischereipolitik. Und jetzt ist es so, daß ich von meinen alten Bekannten in der Kommission gehört habe, daß es eine Menge Geld gibt, das bereitgestellt wurde, um den Osteuropäern bei der Anpassung zu helfen, aber keine Leute, um den Job zu erledigen. Der langen Rede kurzer Sinn, meine Idee bestehtdarin, ein Beratungsunternehmen zu gründen, dessen sich die Kommission bedienen kann, um den Behörden in den künftigen Mitgliedsländern bei der Anpassung
Weitere Kostenlose Bücher