Die toten Mädchen von Villette
Toiletten. Sie schloß sich in einer Toilettenkabine ein und zog die Kleider an, die Tatia ausgewählt hatte – ein marineblaues, kragenloses Martin-Margiela-Sakko, ein limettengrünes T-Shirt aus Seide, und eine schmale schwarze lange Hose, die Tatia genäht hatte.
Das Telefon klingelte, als sie in ihr Dienstzimmer kam. Es war der Gerichtspräsident Yves Deshayes, technisch gesehen ihr Chef, aber ein Potentat, den sie öfter in der Zeitung sah, als sie ihm persönlich begegnete. Er gehörte zu allen einflußreichen Netzwerken der Stadt und war ein enger Freund von Jean-Marc Poupart, dem Bürgermeister, der in den letzten fünf Jahren den legendären Guy Dolhet als politischen Paten Villettes ersetzt hatte.
– Yves Deshayes hier, sagte er, das ist ja eine katastrophale Geschichte, Martine, sagen Sie, daß Sie einen Verdächtigen haben!
– Wir haben einen Verdächtigen, sagte sie.
Es wurde still im Hörer.
– Scherzen Sie? sagte er.
– Nein, sagte sie, ich habe einen Haftbefehl ausgestellt,und wir haben den Verdächtigen gerade abgeholt. Ich werde ihn demnächst verhören.
– Aber das sind ja großartige Nachrichten, sagte Deshayes, gratuliere, Martine. Wie stark ist der Verdacht?
– Im Augenblick ziemlich stark, sagte sie. Wir haben Beweise dafür, daß die ermordeten Mädchen gestern abend in seinem Auto befördert wurden, und er wohnt an der Landstraße, wo sie gefunden worden sind. Aber wir haben noch nichts, was ihn mit dem Tatort in Verbindung bringt.
– Ja, ja, sagte Deshayes, das klärt sich sicher, die Voruntersuchung hat ja gerade erst angefangen. Wer ist es?
Martine zögerte. Der Gerichtspräsident hatte natürlich jedes Recht, den Namen des Verdächtigen zu erfahren, aber sie hatte keine Lust, darüber zu sprechen. Die Stimmung draußen bei Schrott-Bernards Hof war unangenehm geworden, als sie die Gegenstände gefunden hatten, die Jean-Pierre Wastia mit den ermordeten Mädchen in Verbindung brachten, und sie war sicher, daß einige der Polizisten Gelegenheit gefunden hätten, bei Jean-Pierre die Fäuste zu benutzen, wenn sie nicht dafür gesorgt hätte, daß er im selben Auto fuhr wie sie. Sie war sicher, daß bald halb Villette wissen würde, wer festgenommen worden war, und hatte Angst, daß die Stadt von einer Lynchstimmung erfaßt würde, in der sich niemand länger bei Finessen wie der aufhalten würde, daß ein Verdächtiger als unschuldig zu gelten hatte, bis das Gegenteil bewiesen war.
– Er heißt Jean-Pierre Wastia, sagte sie, Sohn von Bruno Wastia, dem Autohändler.
– Aha, sagte Deshayes, und Enkel des Schrotthändlers, stimmt’s? Ja, das ist ja eine Familie mit einem gewissen Ruf in der Stadt. Aber warten Sie, Ihre Rechtspflegerin, heißt die nicht auch Wastia?
– Doch, sagte Martine, aber sie hat frei bekommen; bei dieser Voruntersuchung arbeitet Agnes Champenois mit mir.
– Sie wollen natürlich eine Pressekonferenz abhalten, sagte Deshayes. Es war eine Behauptung, keine Frage.
– Ja, sagte sie, ich habe für drei Uhr einen Raum gebucht.
– Drei Uhr, sagte Deshayes, hmm. Ich glaube, zwei würde besser passen, dann können die Medien direkt von der kommunalen Pressekonferenz zum Justizpalast gehen und sich Klarheit darüber verschaffen, daß wir die Situation unter Kontrolle haben. Es ist ja nicht so glücklich für das Kulturhauptstadtengagement, wenn ausländische Medien den Eindruck vermitteln, daß ein Massenmörder in Villette frei herumläuft.
Martine wurde wütend.
– Drei Uhr paßt mir besser, sagte sie, und ich arbeite eigentlich nicht für die kommunale PR-Abteilung.
Sie hörte selbst, daß sie schärfer klang, als sie beabsichtigt hatte. Aber sie war zu müde, um diplomatisch zu formulieren.
Yves Deshayes seufzte theatralisch in den Hörer.
– Sehen Sie, Martine, niemand würde Sie verdächtigen, für die kommunale PR-Abteilung zu arbeiten, ganz im Gegenteil, nach Ihren Heldentaten im Frühjahr. Ein bißchen Flexibilität und guten Willen zu zeigen, wirft absolut keinen Schatten auf Ihre Unabhängigkeit, das begreifen Sie doch? Gut, dann sind wir uns einig! Ich sorge dafür, daß der Raum auf zwei Uhr umgebucht wird, dann müssen Sie sich nicht die Mühe machen.
Er legte auf, bevor sie etwas hatte sagen könnne. Sie fühlte sich überfahren. Aber der Zeitpunkt für diePressekonferenz war eine Bagatelle, darüber zu streiten war nicht der Mühe wert. Sie hatte an wichtigere Dinge zu denken.
Sie sah auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten bis zum
Weitere Kostenlose Bücher