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Die toten Mädchen von Villette

Die toten Mädchen von Villette

Titel: Die toten Mädchen von Villette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Hedström
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stöhnte.
    – Ich muß verrückt gewesen sein, daß ich das angenommen habe! Achtzig Journalisten, die dastehen und Gratisdrinks bechern, glaubt irgend jemand, daß die einem Professor zuhören wollen, der anfängt zu dozieren, wenn sie gerade ihre Trinkrunde gefunden haben? Ich wollte es kurz und kernig machen, mit viel Gewalt. Das Schlimmste ist, daß diese überenthusiastische kleine Vizebürgermeisterin, die sich mit Kulturfragen befaßt, so eine Idee hatte, daß mein Auftritt von mittelalterlich gekleideten Herolden mit Trompeten angekündigt werden sollte. Ich hoffe, es ist mir gelungen, ihr wenigstens diesen Gedanken auszureden.
    Tatia, die zu ihrer üblichen Gothic-Montur zurückgekehrt war, hatte nicht die geringste Lust auf Small talk im Rathaus. Sie ging zum Ausgang, um sich auf einen Streifzug durch die kleinen Boutiquen auf der Île St. Jean zu begeben.
    – Aber sieh zu, daß du dich an Stellen aufhältst, wo viele Leute sind, rede nicht mit fremden Männern und geh nicht in abgelegene Gassen, rief ihr Philippe nach.
    Sie lächelte und warf ihrem Vater eine Kußhand zu.
    Das Rathaus von Villette war Ende des sechzehnten Jahrhunderts erbaut worden, fast hundert Jahre nach dem Bischofspalast, inzwischen Justizpalast. Das Rathaus war größer und prachtvoller, als hätten die weltlichen Machthaber der Stadt den mächtigen Prälaten auf der Île St. Jean ihren Reichtum und ihren Einfluß demonstrieren wollen.
    Villettes Bürgermeister Jean-Marc Poupart stand massiv und grau am Eingang zu dem großen Empfangssaal, in dem das Licht durch hohe Fenster auf den Parkettboden fiel. Seine Stirn war naß von Schweiß, und er atmete so schwer, daß es über dem Stimmengewirr und Gläserklingen zu hören war. Aber seinen Augen, klein und grau unter schweren Augenlidern, entging nichts.
    Neben ihm trat Vizebürgermeisterin Annalisa Paolini rastlos von einem Fuß auf den anderen, als wolle sie einen Überschuß an Energie loswerden. Ihre Absätze klapperten wie Kastagnetten auf dem Parkettboden, und sie gestikulierte so, daß ihre Nägel wie rote Stopsignale blitzten. Sophie hatte sie kontaktiert, um sich die Erlaubnis, in öffentlichen Gebäuden zu filmen, zu beschaffen, und hatte schnell begriffen, daß sie die treibende Kraft hinter dem Kulturhauptstadtengagement war, intelligent, ehrgeizig und energisch. Aber jemand sollte der Frau sagen, daß sie das mädchenhafte Lachen rationieren sollte, wollte sie ernst genommen werden. Sophie war in Versuchung gewesen, es selbst zu tun, hatte sich aber entschieden, daß das die Aufgabe eines anderen war.
    Annalisa Paolinis Gesicht hellte sich auf, als sie sie sah.
    – Professor Héger, rief sie mit ihrem mädchenhaften Lachen aus, wie gut, daß Sie hier sind! Sie können ganz ruhig sein, es gibt keine Herolde! Madame Lind, wie schön, daß Sie kommen konnten!
    Sie schüttelte Thomas und Sophie enthusiastisch die Hand und sah dann Philippe an, fragend, aber wohlwollend. Philippe lächelte sie verbindlich hinter der Sonnenbrille an, die er aufgesetzt hatte, als sie über den Platz gegangen waren.
    – Ich habe einen Freund mitgebracht, murmelte Sophie, ich hoffe, das ist in Ordnung …
    – Selbstverständlich, strahlte Annalisa Paolini und wandte sich von ihnen ab, um eine neue Gruppe Gäste zu begrüßen.
    Sophie und Philippe nahmen sich ein Glas Champagner und stellten sich an die gewaltige Marmorfeuerstelle des Saals, während Thomas beiseite trat, um ein letztes Mal seinen Vortrag zu überdenken. Der Saal begann sich mit Menschen zu füllen, die unter der dunklen, geschnitzten Decke und unterhalb der Porträts breitbeiniger Bürger aus dem sechzehnten Jahrhundert in Samt mit Pelzbesatz klein und unbedeutend aussahen.
    Es war leicht zu sehen, wer die Brüsseler Journalisten waren. Sie kamen in kleinen Gruppen und sahen sich mit abwartenden Blicken um, als wollten sie zeigen, daß sie nur Beobachter waren, auf der Jagd nach einer Story oder zumindest jemandem, mit dem zu reden sich lohnte. Die meisten von ihnen waren Männer, proper gekleidet in Anzug und Schlips, aber sie sahen trotzdem leicht angeschmuddelt aus, als hätten sie die Sachen zu lange angehabt.
    Drei der Journalisten, jeder sein Glas in der Hand, schlenderten zur Feuerstelle und rückten so dicht an Sophie heran, daß sie hören konnte, was sie sagten. Sie sprachen französisch, einer mit starkem englischen Akzent.
    – Ratet mal, ob die Genies am Desk auf diese Story abgefahren sind, sagte er sauer. Ich

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