Die toten Mädchen von Villette
ersten Verhör mit Jean-Pierre Wastia. Sie sollte es allein durchführen, wollte aber zuerst das Konzept mit Christian de Jonge besprechen.
Jean-Pierre Wastia sah jung und besorgt aus, als er von zwei Polizisten hereingeführt wurde. Er hatte augenfällig schockiert und bestürzt gewirkt, als er festgenommen worden war, und jede Kenntnis vom Tod der drei Mädchen geleugnet. Aber der Schock konnte ja auch darauf beruhen, daß ihm die Polizei so schnell auf die Spur gekommen war.
An Julies Schreibtisch saß Agnes Champenois bereit, um das Verhör zu protokollieren.
– Also, Jean-Pierre, sagte Martine, nachdem sie sich vergewissert hatte, daß er das eingeschweißte Blatt Papier mit Informationen über seine Rechte durchgelesen hatte, ich bin keine Polizistin, sondern Untersuchungsrichterin, und ich bin nicht hier, um dich anzuklagen, sondern um die Wahrheit herauszufinden. Aber ich fürchte, daß es für dich ziemlich schlecht aussieht. Sabrina Deleuze, Peggy Bertrand und Nadia Bertrand wurden heute nacht zwischen dem Fluß und der Landstraße zu dir nach Hause ermordet aufgefunden. Wir wissen, daß du gestern nacht die Landstraße entlanggefahren bist, und wir haben Beweise dafür gefunden, daß die Mädchen in deinem Auto gewesen sind. Am besten erzählst du, was passiert ist.
Er sah sich um, als suche er nach jemandem, der ihm helfen konnte. Dann begann er zu reden, langsam und mit vielen Pausen.
– Ich habe nichts getan, sagte er, ich begreife nichts vonalledem, ich habe niemanden ermordet. Ich war gestern abend auf dem Heimweg, als ich Sabrina und die beiden anderen Mädchen sah, die die Straße entlanggingen, und da hab ich angehalten und gefragt, ob sie mitfahren wollten, und das wollten sie. Also quetschten sie sich alle drei neben mich ins Fahrerhaus, und ich wollte sie nach Givray fahren. Aber als ich zur Abzweigung nach Givray kam, sagte Sabrina, ich sollte sie da rauslassen, ich brauchte sie nicht den ganzen Weg zu fahren.
– Aha, sagte Martine, aber ich glaube, wir sollten etwas früher anfangen. Du hattest Sabrina, Peggy und Nadia im Laufe des Abends schon vorher getroffen, stimmt’s?
– Ja, gab Jean-Pierre zu, im La Cave du Cardinal, ich habe da ein bißchen mit Sabrina geredet. Aber ich habe mit vielen geredet, das tut man am Johannisabend.
– Kanntest du die Mädchen vorher? fragte Martine.
Er zuckte die Achseln.
– Kannte und kannte, wir waren ja in dieselbe Schule gegangen, deshalb wußte ich, wer sie waren. Aber da waren sie ja nur kleine Mädchen.
– Aber jetzt nicht mehr, sagte Martine, jetzt waren sie keine kleinen Mädchen mehr?
Er sah verständnislos aus.
– Viele, mit denen wir geredet haben, sagen, daß du mit Sabrina geflirtet hast, verdeutlichte Martine, deshalb wolltest du sie vielleicht wiedersehen?
– Nein, sagte Jean-Pierre, in dem Fall hätte ich wohl direkt gefragt, ob sie gefahren werden wollen, als sie gesagt haben, sie müßten los, um den Bus zu kriegen, ich wußte ja, daß sie in dieselbe Richtung mußten wie ich. Es war den ganzen Abend ein ständiges Gelaber über diesen Bus, deshalb habe ich mich gewundert, als ich die Mädchen die Straße entlanggehen sah.
Martine vermerkte, daß Jean-Pierre, während er zuerst gesagt hatte, er habe mit Sabrina nur »ein bißchen geredet«, jetzt vom »ganzen Abend« sprach. Sie überlegte kurz, ob es so gewesen sein konnte, daß Jean-Pierre tatsächlich schon angeboten hatte, die Mädchen nach Hause zu fahren, als sie sich im La Cave du Cardinal getroffen hatten, ob es mehr als ein Zufall gewesen war, daß er sie in seinem Lastwagen mitgenommen hatte.
Aber alle Zeugen waren sich einig gewesen, daß die Mädchen mindestens eine halbe Stunde vor Jean-Pierre die Bar verlassen hatten. Aber für einen jungen Mann auf Kneipentour während der Johannisnacht hatte er einen ziemlich frühen Abgang hingelegt.
– Du bist ziemlich früh nach Hause gefahren, sagte Martine, warum denn? Du hattest doch keine Zeit einzuhalten?
Er zuckte wieder die Achseln und sah auf den Tisch.
– Ich fand es einfach nicht besonders lustig, sagte er, ich finde es nie mehr besonders lustig. Jeden Augenblick fange ich an, an Sachen zu denken, die ich im April unten in Afrika gesehen habe, und kann damit nicht aufhören, es geht mir ständig im Kopf herum, und da will ich nicht unter Leuten sein.
Posttraumatisches Stressyndrom, dachte Martine. Sie konnte nicht anders als ein gewisses Mitleid mit dem Jungen zu empfinden. Aber sicher gab es das
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