Die toten Mädchen von Villette
interessiert. Er schrieb die Telefonnummer seines Hotels auf eine Visitenkarte, die er Philippe reichte, und sie trennten sich mit dem Ausdruck gegenseitigen Wohlwollens.
Sophie war leicht schockiert.
– Pfui Teufel, sagte sie zu Philippe, verkaufst du deine eigene Schwester, um Kontakte bei der Presse zu pflegen?
Philippe zuckte die Achseln.
– Dienste und Gegendienste, sagte er, nur darum geht’s, und man muß was zum Tauschen haben, wenn man sichvon unten hocharbeiten will. Ich glaube nicht, daß Tatine was dagegen hat, wenn die ausländische Presse sie porträtiert. Sie hat immer davon geträumt, berühmt zu werden, auch wenn sie es nicht zeigt. Und ich würde ja nichts Unvorteilhaftes erzählen.
Sophie war nicht überzeugt, aber bevor sie Philippe weiter zurechtweisen konnte, legte ihr jemand die Hand auf die Schulter. Sie drehte sich um.
– Jacques Martin, sagte sie begeistert, genau der Mann, den ich treffen wollte!
Der Fotograf lachte und küßte sie auf die Wange. Mit der schwarzen Lederjacke und dem Jeanshemd war er der einzige Mann im Raum, der nicht Sakko und Schlips trug. Er war auf genau dieselbe Weise gekleidet wie bei ihrer ersten Begegnung, als sie in »Blanche von Namur«, ihrem ersten Film mit Eskil Lind, gespielt und Jacques R. Martin bei den Dreharbeiten die belgischen Standfotos aufgenommen hatte. Das war lange her, länger, als sie denken mochte. Damals war er auf seinem Gebiet ein aufsteigender Stern gewesen. Jetzt war er als Fotograf international etabliert. Seine Spezialität waren Konflikte in Europa, vom Ungarn-Aufstand 1956 bis zu dem Krieg, der jetzt in dem zerfallenden Jugoslawien wütete, aber er wechselte zwischen Kriegsreportagen und kommerziell gangbareren und besser bezahlten Fotojobs wie den Bildern von Sophie, die er für die Elle machen sollte.
– Warum wolltest du mich treffen? fragte er, ist es meine gewinnende Persönlichkeit, oder ist es etwas anderes?
– Nein, sagte Sophie, es ist dein Job, du hast ja viele Reportagen über Frauen im Krieg gemacht, stimmt’s? Diese Lager in Bosnien? Meine Schwägerin Martine hat gerade erfahren, daß ihre Mutter während des Krieges inRavensbrück war, und sie grübelt über eine Menge Dinge nach. Ich dachte, es könnte interessant sein für sie, mit dir zu reden.
Sie sah aus den Augenwinkeln, daß Philippe Jacques Martin mit einem auffallenden Mangel an Enthusiasmus betrachtete. Vielleicht war sie in ihrem Eifer, zu schalten und zu walten, zu weit gegangen, dachte sie. Es war vielleicht keine glückliche Idee, mit Außenstehenden über die Familiengeheimnisse ihrer angeheirateten Verwandten zu reden. Aber es war ja Philippe, der im Begriff war, in der Vergangenheit zu graben, auch wenn Martine am meisten vom Schicksal ihrer Mutter besessen war. Sie stellte die beiden Männer eilig einander vor.
– Und was machen Sie in Villette, sagte Philippe, ist es nicht ein bißchen weit von den Konfliktzonen der Welt entfernt?
– Geld, sagte Jacques Martin mit einem Lachen, ich mache für eine amerikanische Fotozeitschrift einen Job über belgische Festivals. Mit so was verdiene ich Geld, damit ich die anderen Reportagen machen kann, ich arbeite ja freiberuflich. Und ich dachte, ich könnte vielleicht die Gelegenheit nutzen, etwas über Villette und das Kulturhauptstadtengagement zu machen, wenn ich schon mal hier bin, deshalb habe ich mich auf diesen Empfang geschmuggelt.
Er reichte Philippe eine Visitenkarte, die dieser nonchalant in die Tasche steckte, sich entschuldigte und zum Tisch mit den Getränken ging.
– Martine, sagte Jacques Martin langsam, meinst du, deine Schwägerin ist Martine Poirot, die Untersuchungsrichterin? Die würde ich gern kennenlernen. Aber sie ist wohl im Moment ziemlich beschäftigt?
Bevor Sophie antworten konnte, stieg Annalisa Paolini auf die kleine Estrade an der Schmalseite des Saals undteilte mit, daß Professor Thomas Héger, »unser wohlbekannter Forscher und Bestsellerautor«, über die frühe Geschichte von Villette und den Hintergrund der Johannisprozession sprechen würde.
Die Plastiktüte mit Kleidern wartete in der Rezeption auf Martine, als sie zum Justizpalast zurückkam. Erleichtert nahm sie sie mit hinauf in den dritten Stock und auf die Damentoilette und betete, daß niemand hereinkommen würde, während sie sich wusch. Das lauwarme Wasser gab ihr ein schönes Gefühl am Hals, und sie fühlte sich sofort frischer, trotz des Chemikaliengeruchs der billigen Seife öffentlicher
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