Die toten Mädchen von Villette
Morduntersuchung zu tun haben sollen, verstehe ich überhaupt nicht. Es gibt keinen Zusammenhang. Nächste Frage!
Dem Kriminalreporter einer belgischen Reichszeitung gelang es, indem er sich vordrängte, eine Frage vor dem Brüsseler Korrespondenten eines französischen Fernsehkanals einzuschieben.
– Wie stark sind die Verdachtsmomente gegen den Festgenommenen? Sind es nur Indizien, oder haben Sie einen technischen Beweis, der ihn mit dem Verbrechen in Verbindung bringt?
– Wir haben Zeugenaussagen, aber auch einen gewissen technischen Beweis, der den Verdächtigen mit den ermordeten Mädchen in Verbindung bringt, aufgrund von diesem habe ich den Haftbefehl ausgestellt, sagte Martine.
Jetzt ließ sich der französische Fernsehreporter nicht mehr aufhalten.
– Wenn sich die Aufmerksamkeit der Umwelt auf Belgien richtet, dann fast immer im Zusammenhang mit Verbrechen und Skandalen – Politikermorden, Korruptionsaffären, Sprachstreitigkeiten, Rechtsextremismus. Meinen Sie, Madame Poirot, es wäre richtig, Belgien heute als eine Art Bananenrepublik zu bezeichnen?
– Das, meine ich, wäre falsch, nicht zuletzt deshalb, weil Belgien eine Monarchie ist. Und was Morde, Korruption und Skandale betrifft, bin ich mir nicht sicher, ob mein Land stärker betroffen ist als Ihres.
Da bekam sie wenigstens ein paar Lacher. Die Pressekonferenz lief weiter – ein oder mehrere Täter, wie groß waren die Ressourcen, die die Polizei eingesetzt hatte, sind es Sexualmorde, sind Sie sicher, daß Sie den richtigen Mann festgenommen haben?
– Unser Rechtssystem geht davon aus, daß jeder unschuldig ist, solange er nicht vom Gericht verurteilt worden ist. Die Untersuchung geht weiter, sagte Martine.
Nathalie Bonnaire, die während der Pressekonferenz stumm dagesessen hatte, kam danach zu ihr.
– Na? sagte sie. Ich habe keine Namen publiziert, wie Sie gesehen haben. Was kriege ich dafür?
Martine konnte nicht anders als lächeln. Die zurückhaltende und zugleich forsche Art der jungen Reporterin hatte etwas, das sie ansprach, vielleicht, weil es sie an sich selbst erinnerte.
– Rufen Sie mich heute abend an, sagte sie, gegen sieben. Wenn Sie ein paar gute Fragen haben, werde ich versuchen, sie zu beantworten.
– Ich habe jetzt eine gute Frage, sagte Nathalie Bonnaire. Ich weiß, wer es ist, den Sie festgenommen haben, und ich weiß, daß er mit Ihrer Rechtspflegerin verwandt ist. Wie lösen Sie das?
– Meine außerordentlich kompetente Rechtspflegerin hat auf eigenen Wunsch einen wohlverdienten Urlaub genommen, um eventuelle Befangenheitsprobleme zu vermeiden, sagte Martine kalt. Sie genießt nach wie vor das größte Vertrauen von mir und allen anderen im Justizpalast. Ich hoffe, Sie wollen nicht etwas anderes andeuten.
– Das nehme ich als eine Stellungnahme, sagte die Reporterin. Aber wir kommen ja morgen nicht raus, leider.
Sie schlug mit einem Seufzer ihren Block zu.
Das Telefon klingelte, als Martine in ihr Dienstzimmer zurückkam.
– Hast du Zeit für eine schnelle Tasse Kaffee in der Blinden Gerechtigkeit? sagte Philippe.
– Warum? sagte Martine.
– Logistik, sagte Philippe, Tatia muß wohl eine Menge Sachen herschaffen, wenn sie plötzlich als Kostümassistentin von Sophie den Sommer in Villette verbringen soll. Ich glaube, sie hat Bernadette die gute Nachricht noch nicht mal überbracht, und ich bin definitiv nicht die richtige Person dafür.
Martine sah auf die Uhr. Sie hatte tatsächlich eine halbe Stunde übrig. Obwohl sie es ziemlich satt hatte, Stoßdämpfer zwischen Philippe und seiner Exfrau zu spielen.
– Okay, sagte sie, ich komme jetzt runter.
Philippe wartete auf sie in der Bar mit einer Tasse Kaffee vor sich. Sie einigten sich schnell, daß Tatia Bernadette selbst anrufen mußte, sobald sie von ihrem Shoppingausflug zurückkam.
– Sie scheint nicht allzu begeistert zu sein, sagte Philippe, ich glaube, Tatia sollte den Sommer über in Berts Wurstladen in Antwerpen jobben. Und mit drei ermordeten Teenagern hier in Villette wird man ja unsicher, ob das der richtige Ort ist, an dem die eigene Tochter den Sommer verbringen soll, ich muß sagen, ich habe auch meine Zweifel. Aber ihr habt einen Verdächtigen festgenommen, heißt es?
Er sah Martine fragend an. Aber bevor sie antworten konnte, blieb ein Mann an ihrem Tisch stehen und streckte Philippe die Hand entgegen.
– Hallo, hier bist du, sagte er, darf ich mich setzen?
Philippe sah erstaunt aus, fast übertrieben erstaunt, fand
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