Die toten Mädchen von Villette
Verhoeven war eine international anerkannte Autorität innerhalb der Gerichtsmedizin und hatte natürlich das beste Netzwerk von ihnen allen. Warum hatte sie nicht daran gedacht?
– Aber ich habe hier nichts zu bieten, sagte Annick, ich gehe weiter die Zeugenaussagen und Befragungen durch. Und ich kann mich auch um die Christelle-Untersuchung kümmern und sehen, ob es darin etwas gab, das unter diesem neuen Aspekt interessant ist.
Die Sitzung war im Begriff, sich aufzulösen.
– Nur noch eines, sagte Christian, was machen wir mit Jean-Pierre Wastia?
Auch Martine hatte daran gedacht.
– Ich werde ihn wieder verhören, sagte sie, aber es ist möglich, daß ich den Haftbefehl aufheben und ihn freilassen sollte. Ich denke darüber nach. Es gibt zu viel, das auf einen anderen Täter hindeutet, und zu viel, das darauf hindeutet, daß er nicht am Tatort war.
– Ich würde glauben, daß es dem jungen Herrn Wastia im Augenblick in der Zelle am besten geht, sagte Willy Bourgeois, es gibt viele Jungens da draußen, die die Mädchen kannten und sicher sind, daß er schuldig ist, und mit ihm abrechnen möchten, wenn er rauskommt.
Martine war beinah sicher, daß sie Jean-Pierre Wastia freilassen und den Haftbefehl aufheben mußte. Es war ganzund gar ihre Entscheidung, aber sie nahm an, daß es das beste war, wenn sie zuerst mit dem verantwortlichen Staatsanwalt darüber sprach. Die Staatsanwaltschaft hatte die unerfahrene Clara Carvalho rasch von dem Dreifachmord abgezogen und den Fall statt dessen Benoît Vercammen, einem der routiniertesten Staatsanwälte in Villette, übertragen.
Benoît Vercammen war in seinem Dienstzimmer.
– Komm runter zu mir, Poirot, schlug er wohlwollend vor, als Martine anrief, ich will gerade Kaffee trinken, und ich habe eine Platte Pralinen, die du mit mir teilen kannst.
Er hörte mit konzentriert gerunzelter Stirn zu, während Martine über den Stand der Untersuchung berichtete. Sein hellblauer Blick war scharf hinter den runden Brillengläsern.
– Wie ich es sehe, kommen wir gerade mit jedem Schritt, den wir in der Untersuchung machen, weiter von einer Anklage gegen Jean-Pierre Wastia ab. Es gibt nichts, was ihn mit dem Tatort in Verbindung bringt, keine Spuren davon, weder an seinen Kleidern noch in dem Auto, das er gefahren ist. Gleichzeitig ist offensichtlich nichts gereinigt worden, weil wir vieles gefunden haben, das beweist, daß die Mädchen in dem Auto gewesen sind. Was er ja zugibt. Außerdem haben wir jetzt eine sehr starke Verbindung zu dem Christelle-Mord vor zwölf Jahren, den Jean-Pierre Wastia definitiv nicht begangen haben kann.
Benoît Vercammen sah besorgt aus nach ihrem Bericht.
– Um alles in der Welt, sieh dich vor, Poirot, sagte er warnend. Ich verstehe deinen Gedankengang, das tue ich, aber du begreifst natürlich, daß wir bei den Medien und in der öffentlichen Meinung unter Druck geraten, gelindegesagt, wenn du unseren einzigen Verdächtigen freiläßt, ohne einen anderen Mörder vorweisen zu können? Bei der Aufmerksamkeit, die dieser Massenmord bekommen hat?
Martine schnappte sich zwei dunkle Pralinen von der Platte auf Vercammens Tisch.
– Aber du wärst nicht bereit, aufgrund der dünnen Beweislage gegen Jean-Pierre Wastia Anklage zu erheben, oder wärst du das?
Sie steckte sich die Pralinen in den Mund. Der bittersüße Schokoladengeschmack füllte ihren Mund, ein kurzer Stoß von Energie und Wohlbefinden.
– Nein, sagte Vercammen, aber wir untersuchen auch erst den zweiten Tag, und noch ist reichlich Zeit, um Beweise zu finden, die für eine Anklage reichen. Schon gestern gab es so vieles, das gegen Wastia sprach, daß du bereit warst, ihn einzusperren, und das, was gestern für seine Schuld sprach, tut es auch heute. In diesem Punkt hat sich nichts geändert.
– Was sich geändert hat, beharrte Martine, ist, daß es jetzt auch Fakten gibt, die gegen Jean-Pierre Wastias Schuld sprechen. Es ist meine Pflicht als Untersuchungsrichterin, auch sie zu beleuchten. Das habe ich getan, und ich finde, daß sie schwerer wiegen.
Benoît Vercammen stützte das Kinn in die Hände und starrte Martine quer über den Schreibtisch an.
– Es ist deine Entscheidung. Aber übereile nichts, denk genau nach, denk an die Konsequenzen. Das ist mein sehr, sehr gutgemeinter Rat an dich, sagte er.
– Fiat justitia, ruat coelum, sagte Martine leicht. Vercammen seufzte.
– Ja, das ist ja dein Motto, stimmt’s, sagte er, »möge Gerechtigkeit geschehen, und wenn
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