Die toten Mädchen von Villette
geknipsten Amateurbildern. Sie atmeten Leben und Präsenz, zeigten die chaotische Mischung der Johannisprozession: ausgelassener Karneval und asketische Frömmigkeit, träge Nachmittagshitze auf dem Platz, wo römische Soldaten, mittelalterliche Kaufleute und orientalische Tänzerinnen eine Zigarette rauchten oder mit Freunden redeten, nachdem sie ihre Rollen verlassen hatten. Und hier gab es mehrere Bilder von Sabrina Deleuze, allein und zusammen mit anderen.
– Wer hat die aufgenommen? fragte Martine.
Christian warf einen Blick auf das Foto, das er in der Hand hatte.
– Ach so, die, dreh sie um, dann siehst du’s, der Name ist auf die Rückseite gestempelt. Es war ein Berufsfotograf, das sieht man ja fast, ein Freiberufler, er hat sie selbst gebracht. Er sagte übrigens, daß er deine Schwägerin kennt und daß wir ihn anrufen können, wenn wir etwas wissen wollen. Ich glaube, im Umschlag liegt eine Visitenkarte, er hat die Telefonnummer von seinem Hotel und seine Zimmernummer aufgeschrieben.
Martine schüttelte eine Visitenkarte aus dem braunen Umschlag.
– »Jacques R. Martin, Rue de l’Université 4, Paris«, las sie. Sie riß das nächste Telefon an sich, hob den Hörer ab und wählte die Nummer, die mit Kugelschreiber auf der Visitenkarte stand.
– Zimmer 205, bitte, sagte sie.
Der Fotograf war da. Er erbot sich, sofort im Justizpalast vorbeizukommen, weil er sowieso unterwegs sei, um zu Abend zu essen. Martine ging in ihr Zimmer hinauf, sie wollte dieses Gespräch protokollieren lassen. Zehn Minuten später rief die Wache aus der Rezeption an und sagte, daß jemand, der Jacques Martin heiße, sie treffen wolle, und behaupte, daß er erwartet werde.
– Lassen Sie ihn raufkommen, sagte sie.
Der Mann, der einen Augenblick später durch ihre Tür trat, war groß und schlank, stark sonnenverbrannt, und trug Jeans und Jeanshemd. Über der Schulter hatte er eine Kameratasche.
Sein Händedruck war kraftvoll an der Grenze zum Knochenbrechen.
– Sophie, meine Schwägerin, hat von Ihnen gesprochen, sagte sie. Das waren Sie, der sie für die Elle fotografieren soll, stimmt’s? Aber jetzt interessiere ich mich, wie Sieverstehen werden, für Ihre Bilder von letzten Freitag, vielen Dank übrigens, daß Sie sie abgegeben haben.
Er lächelte, und um seine braunen Augen bildeten sich weiße Fächer.
– Ja, ich habe von ein paar sauren Fernsehkollegen gehört, daß Sie ihr Material mit Beschlag belegt haben, und dann hörte ich im Radio, daß Sie noch mehr Bilder haben möchten. Und ich helfe gern, ich habe keine Deadline, und ich arbeite für mich selbst.
– Setzen Sie sich doch, sagte Martine, dann zeige ich Ihnen, für welche Bilder ich mich interessiere, und Sie können erzählen, was Sie wissen.
Er ließ sich auf ihrem Verhörstuhl nieder und streckte die langen Beine unter dem Tisch aus.
– Kennen Sie Sophie schon lange? fragte Martine zerstreut, während sie den Stapel Bilder durchblätterte.
– Seit Ewigkeiten, sagte er, ich war bei ihren ersten Dreharbeiten dabei, ich war der Standbildfotograf für den Teil des Films, der in Namur spielt. Dann sind wir im Laufe der Jahre ab und zu aufeinandergetroffen, und jetzt wohnen wir ja beide in Paris.
Martine fragte sich, ob Sophie und dieser Mann vielleicht einmal zusammengewesen waren. Das Liebesleben der Schwägerin war ein Mysterium für sie, vielleicht ebensosehr wie Philippes. Jacques Martin sah zwar älter aus als Sophie, vielleicht zehn Jahre oder mehr, aber Eskil Lind war mehr als doppelt so alt wie seine damals neunzehnjährige Braut gewesen, als Sophie ihn geheiratet hatte.
– Ich mache also eine Bildreportage über Ihre exotischen belgischen Karnevals für eine amerikanische Zeitschrift, erklärte Jacques Martin, während Martine die Bilder auf dem Schreibtisch ausbreitete, den Karneval von Binche, dieHeiliges-Blut-Prozession von Brügge, und die Johannisprozession von Villette, solche Dinge. Ich bin mit der Prozession gegangen, aber vor allem habe ich auf dem Platz vor der Kathedrale fotografiert, als die Prozession zu Ende war, da habe ich die besten Bilder geschossen.
– Und die, die für mich am interessantesten sind, sagte Martine und zeigte auf eines der Bilder, hier sehen wir Sabrina Deleuze, eines der Mordopfer, wie Sie sicher wissen. Wie kam es, daß Sie dieses Bild gemacht haben?
Das Bild stellte den Salome-Wagen unterwegs auf den Platz mit der Kathedrale im Hintergrund dar. Die orientalischen Trachten mit ihren starken
Weitere Kostenlose Bücher