Die toten Mädchen von Villette
Sie hatte bei ihrer Schwester Christine in Brüssel übernachtet, und Tony hatte am Abend dort angerufen, um zu fragen, ob sie mit ihm am Montag, wenn die Blinde Gerechtigkeit geschlossen war, lunchen wollte. Er mußte sich ziemlich angestrengt haben, um sie zu finden und Christines Telefonnummer zu bekommen.
Sie hatten sich in Villettes Markthalle, wo Tony während des Vormittags einiges zu erledigen hatte, verabredet. Jetzt saßen sie in der neurenovierten Markthalle an einem Cafétisch in der Nähe des Ausgangs zum Quai des Marchands. Der Sonnenschein sickerte durch die hundertjährige Glasdecke hoch über ihren Köpfen, so daß das Licht unter den grün angestrichenen Gußeisensäulen, die die Konstruktion trugen, grün schimmerte wie in einem Aquarium. Den Touristenbroschüren zufolge war die Markthalle eine von Villettes »drei Kathedralen« – der richtigen Kathedrale auf der Île St. Jean, der »Kathedrale des Handels« hier am Quai des Marchands und der »Kathedrale der Arbeit«, einem Parteihauptquartier an der Avenue de la Gare, die Sophie noch nicht gesehen hatte und die zu sehen sie auch nicht besonders interessierte.
Sie schob den Teller mit Schalentierrisotto weg und trank die letzten Tropfen des weißen Weines. Tony lächelte sie an und gab dem Kellner ein Zeichen.
– Möchtest du einen Nachtisch? fragte er.
Sophie lächelte zurück.
– Nein, nur Kaffee für mich, sagte sie, bereute es aber sofort. Kaffee trinken ging viel zu schnell. Sie konnte sich vielleicht an einen kleinen Obstsalat wagen?
Ihr Gespräch hatte gerade vorsichtig angefangen, die sicheren Trampelpfade der Politik und der Kultur zuverlassen und sich persönlicheren Themen zuzuwenden. Sophie hatte von ihrem Sohn in Falun erzählt, Tony hatte von seiner Frau Pascale und ihrer langen Krankheit gesprochen. Der nächste Schritt waren gewöhnlich niedliche Kindheitsanekdoten, dachte Sophie. Aber sie wußte schon, daß Tony im Kinderheim aufgewachsen war und kaum irgendwelche charmanten Geschichten zu erzählen hatte. Und ihre eigene Standardanekdote in solchen Situationen verriet ihr Alter inzwischen etwas zu deutlich – sie handelte davon, wie hingerissen sie als kleines Mädchen von den Plakaten mit Königin Astrid vor der Volksabstimmung über die Monarchie gewesen war und dann monatelang darauf bestanden hatte, daß sie selbst eine Prinzessin war.
Sie erinnerte sich, daß Jean-Jacques bei ihrem ersten Tête-à-tête eine Geschichte über das Pony, das er bekommen hatte, als er fünf wurde, und den Stalljungen, der es auf dem Gut seines Großvaters versorgte, erzählt hatte. Das hätte eigentlich reichen müssen, um sie zu warnen. Aber sie wollte ein Stück inszenieren, das er geschrieben hatte, und sie verliebte sich gern, wenn sie mit einem neuen Projekt anfing. Das hatte etwas mit der kreativen Energie zu tun, glaubte sie. Aber es war trotzdem peinlich, daß sie so lange Zeit gebraucht hatte, um einzusehen, daß er so egozentrisch und prätentiös war, daß andere Menschen für ihn nur als Spiegel existierten, die sein eigenes Bild wiedergaben.
– Daß ich hier mit Sophie Lind sitze, sagte Tony. Als »Blanche von Namur« in Brüssel Premiere hatte, war ich fünfzehn, und ich war so überwältigt, daß ich rausging und von einem Kino das Plakat klaute.
Er lehnte sich zurück und lächelte sie an, ein Lächeln, das sich langsam vertiefte und seine dunkelblauen Augen erreichte. Sie empfand ein erwartungsvolles Kribbeln imKörper und lächelte zurück, den Kopf leicht zurückgeworfen im Halbprofil, auf dieselbe Weise wie auf dem alten Filmplakat. Das war tatsächlich immer noch ihr bester Winkel.
– Hallo, Tony, rief der Fischhändler an der langen Kühltheke hinter ihnen, ich habe hier den Großhändler an der Strippe, er fragt, was du für morgen bestellen willst!
Tony schenkte Sophie ein entschuldigendes Lächeln und ging zur Fischtheke. Als er zurückkam, hatte sich Sophie entschlossen.
– Ich überspringe gern den Kaffee, sagte sie, vielleicht können wir ihn später trinken. Aber ich dachte, du könntest vielleicht mit zu meiner Wohnung kommen und Tatias Koffer rauftragen, der ist ziemlich schwer?
Er lächelte und stand schnell auf, um ihren Stuhl zurückzuziehen. Seine Finger streiften rasch und federleicht ihre Schultern.
Die Wohnung, die Sophie gemietet hatte, gehörte einem Forscher an Thomas’ Institut, der den Sommer in Italien verbringen wollte und dankbar die Möglichkeit annahm, mit seiner Wohnung ein
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