Die toten Mädchen von Villette
dem Versuch steckte, sie von der Untersuchung abzuziehen.
– Ich gehe davon aus, daß Sie damit nicht sagen wollen, daß ich wichtiges Beweismaterial nicht berücksichtigen soll, damit Sie hier im Rathaus beruhigende Pressekonferenzen abhalten können, sagte sie. Ich finde, Sie sollten sich eher Sorgen darüber machen, daß es hier in der Stadt Leute zu geben scheint, die zu einer Lynchstimmung aufhetzen und Selbstjustiz üben. Bruno Wastias Autofirma ist attackiert worden, wie Sie vielleicht gehört haben.
– Ich fand, die Beweise gegen den jungen Wastia wirkten solide, wandte Santini ein, er flirtete mit Sabrina Deleuze, hatte Haare von ihr an der Jacke, und alle drei Mädchen hatten in seinem Lastwagen Spuren hinterlassen.
Yves Deshayes hatte seinen Freund, den Bürgermeister, wirklich großzügig mit Information versorgt, dachte Martine sauer. Sie wollte gerade mit einem bissigen Kommentar reagieren, als Agnes sanft aber bestimmt und in einem Tonfall, der darauf hindeutete, daß sie Santini schon gekannt hatte, als er noch ein Kind war, in das Gespräch eingriff.
– So, Jean-Pierre, sagte sie, hören Sie jetzt auf, Schwierigkeiten zu machen, Sie wissen ja, daß Sie uns die Listen schließlich doch geben müssen. Sie gewinnen nichts dadurch, wenn Sie versuchen, Madame Poirots Knüppel zwischen die Beine zu werfen, das bewirkt nur, daß alles noch länger dauert. Und jeder beliebige andere Untersuchungsrichter würde aus dem Beweismaterial, das wir haben, dieselben Schlüsse ziehen, wie Madame Poirot es getan hat.
Sie beugte sich vor und tätschelte ihm fast mütterlich das Knie. Er sank ein wenig zusammen, wie ein Ballon, der angefangen hatte, die Luft zu verlieren, und breitete resigniert die Hände aus.
– Ja, ja, sagte er, die Teilnehmerliste von der jüngsten Pressereise können Sie sofort bekommen, sie liegt auf meinem Schreibtisch. Aber die Informationen über das Treffen 1982 sind nicht so einfach zu finden. Zwölf Jahre sind eine lange Zeit, und unser Archiv ist nicht besonders übersichtlich. Wir müssen irgendeinen armen Kerl in den Keller schicken, zum Suchen.
Martine sah auf die Uhr. Falls es Journalisten gab, die auf beiden Listen vorkamen, wollte sie am liebsten gleich jemanden losschicken, um sie zu befragen.
– Wie lange kann das dauern, fragte sie, Stunden, Tage, Wochen?
– Ein paar Stunden vielleicht, sagte Santini, oder auch länger.
– Dann können Sie wohl das Material zum Justizpalast rüberschicken, wenn Sie es gefunden haben, sagte sie, und er nickte widerwillig.
– Grüßen Sie Ihren Mann, sagte er, als sie durch die Tür hinausging. Sie nahm an, daß es eine Art Friedensgeste war.
– Ich finde, du solltest jetzt nach Hause fahren und zu Abend essen und dich von deinem Mann bemuttern lassen, sagte Agnes, als sie zum Justizpalast zurückgekehrt waren und Kopien von Santinis Liste gemacht hatten. Ich bleibe noch eine Weile hier und mache meinen Bürokram, aber du hast hier im Augenblick nichts mehr zu tun.
Martine protestierte der Form halber, aber der Gedanke an ein Glas Wein und ein Essen zusammen mit Thomas und Tatia wirkte plötzlich unwiderstehlich verlockend, und nachdem Agnes versprochen hatte, dafür zu sorgen, daß jemand mit allem, was eventuell aus dem Rathaus auftauchte, zu ihr nach Hause in Abbaye-Village fahren würde, rief sie Thomas zu Hause an und sagte, sie sei auf dem Weg.
An dem warmen Sommerabend hatten Thomas und Tatia für das Abendessen draußen gedeckt, laubdünne Scheiben italienischen Schinken und eine große Platte Spargel mit Mousselinesauce. Es wurde langsam zu spät für Spargel, aber die dicken, weißen Stangen waren immer noch zart und weich im Mund. Martine lehnte sich zurück an die bauschigen Kissen des Gartenstuhls, nippte an ihrem Glas mit kühlem Elsässer Weißwein und sah über ihren kleinenGarten. Die Rosen dufteten schwer und süß in der Dämmerung, und Nachtfalter flatterten um die Kerzen, die Tatia angezündet hatte. Thomas lächelte sie träge an, braungebrannt und geschmeidig in aufgeknöpftem blauem Hemd und heller Hose, und plötzliches Verlangen erfüllte sie wie eine schwellende Woge der Sehnsucht. Sie wollte sich auf seinen Schoß setzen und den salzigen Geschmack seiner Haut schmecken. Aber Tatia war ja da, wenn auch außer Sichtweite in der Küche. Und sie hatte auf jeden Fall ihre Periode.
– Warum hast du nicht Sophie eingeladen? sagte sie statt dessen.
– Das habe ich, sagte Thomas, aber ich glaube, sie
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