Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
und Alderman ausgraben. Doch jetzt, so dicht bei der Kirche, überkommt mich ein anderes, noch stärkeres Verlangen – ich muss wissen, was sich im Innern befindet. Muss wissen, ob dort irgendwelche Antworten warten. Alderman macht es sicher nichts aus, noch eine halbe Stunde zu warten, bevor er die Schaufel zu spüren bekommt.
Ich laufe hinter den Bäumen und ein paar Gräbern vorbei, und dann, in einem Bogen, weiter zur Rückseite der Kirche. Ich verharre fünf Minuten in meinem Versteck und halte Ausschau nach weiteren Personen. Doch hier ist niemand. Es regnet immer noch in Strömen, und ich bin mir ziemlich sicher, dass der Cop, der die Kirche bewacht, deswegen im Wagen bleibt, statt wie angewiesen alle paar Minuten um das Gebäude herumzupatrouillieren.
Die Kirche wirkt noch düsterer und abweisender als sonst, so als wäre Gott ausgezogen und hätte den Bau irgendeiner bösen Macht überlassen. Im Innern ist es völlig dunkel. Der Mann, der diesem Ort sein Leben geweiht hat, liegt jetzt auf einer Stahlplatte im Leichenschauhaus, vielleicht bei seinem Gott, vielleicht auch allein.
Zügig taste ich mich vor zur Seitentür und bleibe kurz stehen; ich warte darauf, dass Schroder oder Landry aus der Dunkelheit treten, oder Casey Horwell mit ihrem Kameramann. Doch nichts. Zwischen ein paar Pfosten baumelt Absperrband. Der Türrahmen ist ebenfalls damit umwickelt. Ich versuche das Band zu lösen, ohne es zu beschädigen.
Unter den Schlüsseln, die Schroder zurückgebracht hat, ist auch der, den Bruce Alderman mir dagelassen hat. Ich betrachte den Schlüssel, dann das Schloss, und obwohl es nicht so aussieht, als würde der Schlüssel passen, versuche ich, ihn ins Schloss zu zwängen. Vergeblich. Allerdings könnte er in eine der anderen Türen passen. Ich ziehe einen Satz Dietriche aus meiner Tasche, nehme meine Taschenlampe in den Mund und fange an, das Schloss zu bearbeiten, voller Sorge, der Cop, der auf der Vorderseite parkt, könnte sich genau in diesem Moment dazu entschließen, sich hier umzusehen. Wie sich rausstellt, handelt es sich um einen ziemlich einfachen Schließmechanismus mit Stiften, doch die Kälte und meine Nervosität machen die Sache unnötig kompliziert. Ich brauche fast zehn Minuten, um ins Innere zu gelangen. Die Luft ist eisig, die schwarze Leere vor mir abweisend, und als ich die Tür hinter mir schließe, habe ich nichts weiter als meine Taschenlampe, um die Dämonen hier drin auf Abstand zu halten.
Um den Tatort nicht mit Matsch und Wasser zu verunreinigen, ziehe ich Jacke und Schuhe aus, bevor ich weitergehe. Ich habe die Kirche über den Seitengang betreten: links befindet sich die Kapelle, rechts Vater Julians Büro. Neben mir, auf Hüfthöhe, steht ein Becken, vermutlich mit Weihwasser. Der schmale Strahl der Taschenlampe zerteilt das tiefschwarze Dunkel vor mir, und als ich ihn auf die hintere Wand der Kapelle richte, wird er von der Dunkelheit verschluckt – von außen ist er sicher kaum zu sehen. Ich lasse meine Hand über die Oberseite der vordersten Bankreihe gleiten, in der ich gesessen habe, als ich das letzte Mal mit Vater Julian gesprochen habe. Als ich nach Bruce Alderman gesucht habe. Am Tag darauf bin ich erneut hergekommen, und wir saßen in seinem Büro, und diesmal war ich auf der Suche nach Sidney Alderman.
Ich schalte die Taschenlampe aus und stehe im Dunkeln. Irgendwas ist hier, da bin ich mir sicher. Etwas Finsteres. Vielleicht ist die Kirche selbst voller Zorn. Hier sind schlimme Dinge geschehen. Sünden wurden gebeichtet – wurden auch welche begangen? Die Backsteine, der Mörtel und die Buntglasfenster haben jedes Recht, wütend zu sein. Sie haben alles, was hier im Laufe der Jahre gesagt und getan wurde, in sich aufgenommen, und jetzt, wo der Hüter dieser Geheimnisse fort ist, strömen all das Leid und der Schmerz aus ihnen heraus.
Ich schalte die Taschenlampe wieder an und schaue mich in der Kirche um, ohne nach etwas Bestimmtem Ausschau zu halten. Die Heiligen auf den Wandteppichen aus Buntglas und Stoff, die an den Wänden hängen, sind die Einzigen hier, die ein Auge auf mich haben. Jesu Speisung der Armen. Jesus, der Wasser in Wein verwandelt. Jesus, der für unsere Sünden stirbt. Ist Vater Julian für seine Sünden gestorben? Oder für meine?
Auf dem Boden stehen an verschiedenen Stellen Täfelchen mit Nummern. Was auch immer damit markiert wurde, ist inzwischen fotografiert, eingesammelt und fortgeschafft worden. Nirgends sind Blutspritzer
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