Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
Vielleicht hat ihn bereits der erste Hieb getötet. Zumindest ist er danach in die Knie gegangen. Ich vermute, dass er schließlich, das Gesicht nach unten, tot dalag und dann auf den Rücken gerollt wurde. Ich versuche mir die dreißig Sekunden davor vorzustellen. Wusste Julian, dass sein Mörder im Zimmer war – wenn ja, warum hat er ihm den Rücken zugekehrt?
Man muss ihm die Zunge herausgeschnitten haben, nachdem er bereits tot war. Sonst geht das nur, wenn die betreffende Person gefesselt ist, und selbst dann nicht ohne Gegenwehr. Auf den Fotos war nichts davon zu sehen, ebenso wenig irgendwelche Wunden an Vater Julians Händen, die auf einen Kampf hingedeutet hätten. Ich blicke nach oben und richte die Taschenlampe an die Decke. Sie ist voller Blutspritzer, vom Ausholen mit dem Hammer.
Ich stehe auf. Vater Julians Zunge wurde keinesfalls herausgeschnitten, um mir den Mord anzuhängen, und deshalb wurde sie auch nicht zusammen mit dem Hammer in meinem Haus deponiert. Sie wurde auch nicht herausgeschnitten, um eine Nachricht zu hinterlassen, sondern aus Wut. Vater Julian hat sich geweigert, dem Mörder etwas zu sagen, was dieser wissen wollte. Und das hat ihn extrem wütend gemacht. Darum sind im Wohnzimmer des Pfarrhauses sogar Löcher in der Wand. Wonach hat er gesucht?
Im Schein der Taschenlampe bietet der Schauplatz von Vater Julians Tod einen schrecklichen Anblick. Er schimmert in einem fahlen Gelb, wie ein vergilbter Zeitungsartikel. Alles hier wirkt alt, wie in einem Prospekt der 1960er. Mein erster Gedanke ist: Das Leben als Priester ist kein Zuckerschlecken. Alles, was man besitzt, muss alt sein. Es ist ein Lebensstil, der sich nicht auf materiellen Besitz gründet, sondern auf die Heilige Schrift, auf Liebe und Frieden. In Vater Julians Fall vielleicht etwas zu viel Liebe, sollte sich herausstellen, dass er Bruce Aldermans Vater ist.
Im Pfarrhaus herrscht ein ähnliches Chaos wie im Büro. Überall Unterlagen und Bücher. Die Möbel wurden umgekippt, das Sofa und die Kissen zerfetzt. Im Schlafzimmer sieht es nicht besser aus. Die Matratze wurde vom Bett gezerrt und aufgeschlitzt, sämtliche Schubladen wurden herausgezogen und umgedreht, Kleidungsstücke und Toilettenartikel über den ganzen Boden verstreut. Das Arzneischränkchen im Bad ist leer. Der Bereich unter dem Waschbecken ebenfalls. Ich gehe wieder zurück ins Schlafzimmer. Auf den Schubladen liegen gerahmte Fotos – einige wurden umgestoßen, bei anderen ist das Glas gesplittert. Außer Vater Julian und Bruce Alderman erkenne ich darauf niemanden wieder. Die meisten anderen Personen auf den Bildern tragen eine Soutane.
Als ich im Schlafzimmer eine Ecke des Teppichs anhebe, zeigt sich: wie der Vater, so der Sohn. Denn hier liegt ein Umschlag. Ich frage mich, wer als Erster die Idee hatte – Bruce oder Vater Julian -, doch vielleicht liegt es auch einfach in den Genen.
Im Umschlag stecken fünfzehn, vielleicht zwanzig Fotos. Auf den meisten sind Babys abgelichtet; auf einigen kleine Kinder und auf manchen Jugendliche im Teenageralter. Ich erkenne Bruce Alderman darauf wieder. Er blickt allerdings nicht in die Kamera, ganz so als hätte er überhaupt nicht mitbekommen, dass er fotografiert wurde. Die meisten Bilder zeigen ihn isoliert, ganz allein. Doch die Fotos sind aus dem Zusammenhang gerissen. Nur für sich genommen, haben sie nichts zu bedeuten.
Schwer zu sagen, wie viele Kinder fotografiert wurden; ab einem gewissen Alter verändern sich die Gesichter so stark, dass ich nicht sagen kann, wie ein sechs Monate altes Baby als Sechsjähriger oder als Sechzehnjähriger aussieht. Insgesamt sind es sechzehn Fotos, allerdings nicht zwangsläufig sechzehn Kinder. Es fällt auf, dass sich mit dem Alter der Fotos die Qualität und der Zustand des Papiers, auf dem sie gedruckt sind, verändern, ebenso wie die Kleidung, die die Kinder tragen. Einige Bilder scheinen dreißig, andere erst ein paar Jahre alt. Unmöglich festzustellen, ob Vater Julian sie gemacht hat oder ob sie ihm zugeschickt wurden. Alle Fotos, außer die von Bruce, sind aus kürzerer Entfernung in Wohnungen aufgenommen: Kinder beim Öffnen von Weihnachtsgeschenken, an ihrem Geburtstag – Momentaufnahmen des Glücks.
Ich ziehe den Teppich noch weiter nach oben und hebe ihn in den anderen Bereichen des Pfarrhauses ebenfalls an, bevor ich im Büro dasselbe tue. Nichts. Diese Fotos, diese Kinder – sind sie das Geheimnis, für das Vater Julian gestorben ist?
Inzwischen bin
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