Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
Wasser.
»Wusste Michael davon?«
»Sicher. Ich musste es ihm doch erzählen. Können Sie sich vorstellen, wie es gewesen wäre, wenn er nicht Bescheid gewusst hätte? Ständig hätte er sich Fragen gestellt. Vielleicht hätte er sich sogar gefragt, ob ich mit so vielen Männern geschlafen hatte, dass ich mir über die Identität von Rachels Vater im Unklaren war. Als ich es ihm erzählt habe, war er weder wütend noch enttäuscht. Aus irgendeinem Grund war er erleichtert. Ich bin mir nicht ganz sicher, warum. Aber vielleicht war es ihm lieber, dass ich von einem Priester schwanger war als von einem Drogensüchtigen oder Kriminellen. Vielleicht hielt er das für … reiner. Falls das einen Sinn ergibt.«
Das tut es, wenn auch auf seltsame Weise. »Sind Sie mit Vater Julian weiter in Kontakt geblieben?«
»Anfangs natürlich schon, aber nachdem ich Michael kennengelernt hatte, wollte ich Stewart nicht mehr an meinem Leben teilhaben lassen. Er schien das zu verstehen. An Rachels sechzehntem Geburtstag stellte er dann seine Unterhaltszahlungen ein, und ich wusste, warum. Ihr sechzehnter Geburtstag war der Stichtag. In all den Jahren habe ich ihn nicht einmal gesehen. Außer wegen meiner Mutter, Sie wissen ja.«
»Er hat die Beerdigung Ihrer Mutter abgehalten?«
»Meine Mutter ist weiter in die Kirche gegangen. Darum wäre es ihr Wunsch gewesen.«
»Ihre Mutter wusste nicht, wer der Vater ist?«
»Ich habe mich geweigert, es ihr zu sagen.«
»Vater Julian ist Rachel also am Tag der Beerdigung begegnet?«
Sie nippt erneut an ihrem Wasser, und als sie das Glas absetzt, scheint es, als würde sie den Rand nach einem mikroskopisch feinen Sprung absuchen.
»Ja, so war es. Und eine Woche später ist sie verschwunden. Das ist der Zusammenhang, richtig? Darum sind Sie hier. Wenn ich Rachel erzählt hätte, dass er ihr Vater ist, hätte das was geändert? Musste sie deswegen sterben? Weil ich sie zur Beerdigung meiner Mutter mitgenommen habe?«
Ich weiß, welche Antwort sie hören will, doch damit kann ich ihr nicht dienen.
»Wissen Sie, ob Vater Julian noch andere Kinder hatte?«, frage ich.
»Das ist alles nur meine Schuld«, sagt sie und fängt an zu weinen.
Ich umklammere mein Wasserglas und weiß nicht, ob ich mich neben sie setzen, ihr die Hand auf die Schulter legen und sie trösten soll. »Nichts davon ist Ihre Schuld«, sage ich, und das klingt genauso unverbindlich, wie es gemeint ist. »Bitte, das ist wichtig. Hatte Vater Julian noch weitere Kinder?«
Sie lehnt sich zurück und starrt mich an. »Andere Kinder? Ich … das ist mir nie in den Sinn gekommen. Schon möglich. Aber ich kann es mir eigentlich nicht vorstellen.«
»Woher stammte das Geld, das er Ihnen geschickt hat?«
»Keine Ahnung. Aber Vater Julian ist … Ich meine, er war ein guter Mensch. Er wird schon das Richtige getan haben.«
Ich ziehe die übrigen Fotos aus meiner Tasche und reiche sie ihr.
»Auf der Rückseite stehen Namen«, sage ich.
Sie schaut sie durch, erkennt aber niemanden wieder.
»Das sind auf keinen Fall alles seine Kinder«, sagt sie, doch ich merke, dass sie es nicht wirklich für ausgeschlossen hält. Dass sie die Ähnlichkeit bemerkt hat.
»Die Zahlungen, die Sie von ihm erhalten haben, wurden sie direkt auf Ihr Konto überwiesen?«
»Natürlich. Das war die einzige Möglichkeit.«
»Haben Sie noch einen der Auszüge?«
»Ich glaube schon«, sagt sie, und ich bin mir sicher, dass sie noch welche hat. Ich bin mir sicher, dass Patricia Tyler der Typ Frau ist, der alles aus den letzten dreißig Jahren aufgehoben hat.
»Könnten Sie mir vielleicht einen heraussuchen?«
»Wozu?«
»Sollte er noch mehr Kinder haben, kriege ich mit Hilfe der Kontonummer ihre Namen heraus.«
»Glauben Sie …« Sie zögert. Entweder weil sie nicht weitersprechen will oder weil sie nicht weiß, was sie sagen soll. »Glauben Sie, dass all die toten Mädchen … glauben Sie wirklich, dass sie alle verwandt sind?«
Ich weiche ihrem Blick nicht aus. Sie starrt mir direkt in die Augen, und schließlich sage ich Ja. Sie presst die Hand vor den Mund, als wollte sie zurückhalten, was auch immer sie als Nächstes sagen will.
»Dann wissen Sie bereits, wer diese Mädchen sind«, sagt sie. »Sie wurden doch identifiziert.«
»Nicht alle.«
»Was?«
»Auf den Bildern sind fünf Mädchen zu sehen.«
»Fünf? Oh«, sagt sie, und sie begreift sofort. Sie begreift, dass es irgendwo dort draußen ein Mädchen gibt, das ich finden muss.
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