Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
Stunde gesehen habe; auf dem Bild wirken ihre Augen klar und lebendig. Ich lese mir die Datei durch. Damals kam man zu dem Schluss, dass sie fortgelaufen war, vermutlich weil sie Streit mit ihren Eltern oder mit ihrem Freund hatte und es nicht mehr aushielt.
Ein Blick ins Telefonbuch zeigt mir, dass sich die Adresse von Rachels Eltern nicht geändert hat. Ich frage mich, ob sie immer noch verheiratet sind und wie es ihnen wohl geht. Ich frage mich, wie oft sie nachts dasitzen, Richtung Tür gewandt, während sie darauf warten, dass sie hereinspaziert kommt und ihnen sagt, dass alles wieder gut ist.
Ich lasse den Ring in einen kleinen Plastikbeutel fallen und schiebe ihn in meine Tasche. Dann werfe ich erneut einen Blick auf die Armbanduhr, die ich der Leiche im See abgenommen habe. Ich vergleiche die Zeit mit der auf meiner eigenen. Sie geht nur um ein paar Minuten nach; es kann allerdings auch sein, dass die Tag Heuer richtig und meine falsch geht. Ihr Besitzer muss jedenfalls innerhalb des Sechs-Monats-Zeitraums gestorben sein, in dem wir uns gerade befinden, zwischen Oktober und März, denn sie ist auf Sommerzeit eingestellt. Das Datum ist das von vor vierzehn Tagen.
Ich schnappe mir einen Stift und fange an zu rechnen. Eine analoge Uhr zeigt, egal welchen Monat wir haben, immer einunddreißig Tage an, in den fünf anderen Monaten mit weniger Tagen muss sie von Hand korrigiert werden. Meine Berechnungen ergeben, dass so eine Uhr, wenn sie nicht nachgestellt wird, pro Jahr sieben Tage hinterherhinkt. Das bedeutet, dass diese Uhr seit zwei Jahren nicht gestellt wurde. Also. Wir haben jetzt Ende Februar. Der Besitzer dieser Uhr muss vor zwei Jahren irgendwann zwischen Anfang Dezember und Ende Februar beerdigt worden sein.
Ich nehme mir die Akte mit den Angaben zu Henry Martins vor. Er ist am neunten Januar gestorben. Sie könnte ihm gehören.
Ich schnappe mir das Telefon. Eine halbe Minute später hebt Detective Schroder ab.
»Komm schon, Tate, du weißt, dass ich keine Fragen beantworten kann«, sagt er, als er meine Stimme erkennt. »Du hast nichts mit der Sache zu tun. Und ich bald auch nicht mehr. Ich hab viel zu viel um die Ohren, um mich auch noch damit zu beschäftigen.«
»Du arbeitest am Schlächter-Fall?«
»Ich versuch’s. Falls ich nicht hinschmeiße. Was gut passieren kann.«
»Eine Frage. Die Leiche ohne Beine aus dem See. Ist das die älteste?«
»Keine Ahnung. Schon möglich. Der Gerichtsmediziner meinte, das lässt sich schwer sagen. Es sieht allerdings so aus, als ob zwei der Leichen ziemlich kurz hintereinander ins Wasser geworfen wurden. Warum willst du das wissen?«
»Kannst du das rausfinden?«
»Kann ich.«
»Und mir Bescheid sagen?«
»Nein. Mach’s gut, Tate«, sagt er und legt auf.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Zwei Jahre lang befand sie sich am Handgelenk eines toten Typen, aber nicht unbedingt im Wasser. Das hängt davon ab, wie lange er in der Erde lag, bevor er ins Wasser befördert wurde. So oder so scheint es, dass ich es mit einem Zeitraum von höchstens zwei Jahren zu tun habe.
Ich klicke auf die Liste mit vermissten Personen, doch sie ist einfach zu umfangreich, und solange ich nicht weiß, ob der Mörder einen bestimmten Typ bevorzugt, gibt es keine Möglichkeit, sie zusammenzustreichen. Vielleicht sind die Mädchen alle im selben Alter oder sehen ähnlich aus. Es kann allerdings auch sein, dass in den anderen Särgen gar keine Mädchen, sondern Männer liegen.
Ich schnappe mir mein Handy und den Ausdruck von Rachel Tylors Bild und gehe wieder runter zu meinem Wagen.
Kaum habe ich das Parkhaus verlassen, überdenke ich meinen ursprünglichen Entschluss noch einmal. Jetzt ist nicht die richtige Tageszeit, um bei wildfremden Leuten an der Haustür zu klingeln und ihnen mitzuteilen, dass ihre Tochter wahrscheinlich tot ist. Die meisten Menschen glauben, dafür gebe es nie den richtigen Zeitpunkt – Irrtum. So was macht man am besten früher am Tag, damit sie ihre Freunde und Angehörigen anrufen und diese vorbeikommen und ihnen Trost spenden können. Außerdem: selbst wenn es Rachels Ring ist, bedeutet das noch nicht, dass es sich um ihre Leiche handelt.
Ich fahre hinaus zum Stadtrand und parke meinen Wagen vor einem Blumenladen, der wochentags bis sieben Uhr abends geöffnet hat. Ich muss die Dunkelheit um mich herum durch etwas Helles ersetzen, doch als Erstes fällt mir ein, wie Blumen und Tod im Laufe der Zeit eine Verbindung eingegangen sind, so wie
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