Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
sie. Sie macht einen Schritt zur Seite, und ich trete ein.
Der Flur ist warm und gemütlich. An den Wänden hängen Dutzende Fotos von Rachel aus den neunzehn Jahren, die sie auf dieser Welt verbracht hat. Einige Bilder zeigen sie als Baby auf dem Arm ihrer Mutter. Die Jahre sind nicht spurlos an Mrs. Tyler vorübergegangen. Es gibt Aufnahmen von Rachel neben einem Dreirad, im Sandkasten und auf der Rutsche. Auf einigen ist ein Mann zu sehen, der Rachels Hand hält, mit ihr im Park schaukelt, gemeinsam mit ihr acht Kerzen auf einem Kuchen ausbläst. Langsam wird Rachel älter. Ihre Eltern ebenfalls. Die Mode wechselt, doch das Lächeln bleibt und hält die Eltern jung. Man hätte eines dieser Fotos zusammen mit ihrer Vermisstenanzeige ins Internet stellen sollen, aber wahrscheinlich konnte sich Mrs. Tyler von keinem der Bilder trennen. Ich bin mir sicher, dass Rachels Schlafzimmer noch genauso aussieht, wie sie es verlassen hat, mit denselben Postern an den Wänden und ihren Lieblingsstofftieren, die im Bett auf sie warten, vielleicht gibt es sogar einen Stapel Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke, die man für sie aufgehoben hat. Ein Zimmer, in dem die Zeit stehen geblieben ist.
Patricia Tyler führt mich ins Wohnzimmer.
»Ist Ihr Mann zu Hause?«, frage ich und hoffe inständig, dass sie nicht sagt, sie seien geschieden oder, noch schlimmer, ihr Mann sei aus Kummer darüber, dass er seine Tochter an ein Geheimnis verloren hat, gestorben und habe die letzten sechs, acht oder zehn Monate unter der Erde verbracht.
»Er ist noch auf der Arbeit. Manchmal arbeitet er so spät noch. Zur Zeit eigentlich meistens. Ich sollte ihn wohl anrufen. Oder?«
»Wenn Sie möchten.«
»Was soll ich ihm sagen?«
»Vielleicht sollten wir uns erst mal ein paar Minuten hinsetzen.«
»Sicher, ja, sicher doch, wo sind bloß meine Manieren. Kann ich Ihnen was zu trinken anbieten? Tee? Kaffee?« Sie springt erneut auf. »Was Sie wollen.« Sie ist fast schon aus der Tür, als sie plötzlich stehen bleibt. Sie dreht sich langsam wieder zu mir um und wedelt mit den Händen durch die Luft. »Keine Ahnung, was ich hier überhaupt tue«, sagt sie und fängt an zu weinen.
Da ist sie nicht die Einzige, und plötzlich wünschte ich, ich wäre nicht hergekommen. Ich habe das Verlangen, sie im Arm zu halten, während sie weint, allerdings ein genauso großes Verlangen, aus dem Haus zu stürmen und wegzufahren. Doch ich bleibe sitzen.
»Bitte sagen Sie mir, warum Sie hier sind«, fordert sie mich auf.
Ich kann dieser Frau weder sagen, dass ihr Kind tot ist, noch ihr Bilder von der Leiche zeigen. Oder vom See am Friedhof erzählen, von einer Frau, deren verweste Überreste aussehen wie die von Rachel. Ich kann weder die Exhumierung erwähnen, noch von meinem Bad mit den Leichen berichten oder davon, dass es derselbe Friedhof ist, auf dem ich vor zwei Jahren nach dem Unfall fast meine Frau beerdigt hätte. Ich greife in meine Tasche und hole den kleinen Plastikbeutel mit Rachels Ring hervor. Wortlos nimmt sie ihn und sinkt langsam auf den Stuhl gegenüber. Eine ganze Weile sagt sie nichts.
»Darauf bin ich heute bei meinen Ermittlungen gesto ßen«, sage ich. Schließlich schafft sie es, ihren Blick von dem Ring zu lösen und auf mich zu richten.
»Kommt er Ihnen bekannt vor? Gehört er Rachel?«
»Wo haben Sie ihn gefunden?«, fragt sie. »Wer hat ihn getragen?«
»Niemand«, lüge ich.
»Aber wie haben Sie ihn dann gefunden?«
»Bitte, es sind nur ein paar Fragen. Die Inschrift lautet Rachel & David für immer .«
»War es David? Hat er Ihnen den Ring gegeben?«
»Nein. Ich habe ihn von niemandem. Ich habe ihn gefunden.«
»Wo?«
»Bitte, Mrs. Tyler, können Sie mir etwas über David erzählen?«
»Woher wussten Sie, dass Sie hierherkommen müssen?«
»Die Inschrift«, sage ich, doch dann bemerke ich meinen Fehler. Es gibt für mich nur einen Grund, die vermissten Personen zu überprüfen: Wenn ich glaube, dass der Besitzer des Rings tot ist. Mrs. Tylor sieht diesen Zusammenhang glücklicherweise nicht.
»David hat ihn ihr zum Geburtstag geschenkt.«
»Ist David ihr Freund?«, frage ich und achte darauf, nicht »war« zu sagen.
»Ich habe der Polizei bereits alles gesagt, was ich weiß.«
»Aber ich bin nicht von der Polizei«, sage ich, »das heißt, ich kann die ganze Sache anders angehen.«
»Sie glauben, sie ist tot, oder?«
Ich denke an die Blumen auf dem Beifahrersitz meines Wagens und bedaure, dass ich nicht zuerst zu
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