Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
meiner Frau gefahren bin. Ich hätte mit ihr reden, ihr von meinem Tag erzählen, ihr sagen können, wie sehr sie mir fehlt. Ich hätte mit ihr Händchen halten und mir alles von der Seele reden können.
»Keine Ahnung«, sage ich.
»Warum glauben Sie dann, dass Sie ihr helfen können?«
Interessant, dass sie gefragt hat, wie ich Rachel helfen kann, und nicht ihr und ihrem Mann. Interessant ist allerdings nicht das richtige Wort. Es ist niederschmetternd. Diese Frau hofft nicht bloß, dass ihre Tochter vielleicht noch am Leben ist, sie klammert sich daran, als handle es sich um eine Tatsache. Aber ihre Frage geht darüber hinaus. Unwillkürlich gebe ich mir selbst die Antwort darauf: nichts. Jetzt nicht mehr. Ja, ich kann nicht mal denen helfen, die nach ihr kamen.
»Ich schätze, dass es in Rachels Sinn ist, wenn ihr so viele Leute wie möglich helfen.«
Sie nickt, dann fängt sie an, mir von ihrer Tochter zu erzählen, und mir wird klar, dass sie mit einer wildfremden Person genauso bereitwillig über Rachel sprechen würde. Wahrscheinlich hätte es gar keinen Unterschied gemacht, wenn ich ihr an der Tür irgendwelche Lexika oder Gott angepriesen hätte. Sie redet fast zwanzig Minuten, ohne dass ich sie unterbreche. Ich weiß, wie es ist, jemanden zu verlieren. Die Hoffnung nicht aufzugeben. Falsche Hoffnungen sind schrecklich, aber vielleicht nicht so schlimm wie völlige Hoffnungslosigkeit. Nur wer schon mal in so einer Situation war, kann das beurteilen.
»Und David?«, frage ich, nachdem sie mir alles, was sie weiß, über Rachels Leben erzählt hat, inklusive aller Einzelheiten aus den Tagen vor ihrem Verschwinden. »Was können Sie mir über ihn sagen?«
»Ich war der Meinung, dass er wusste, was passiert ist«, sagt sie. »Für ein paar Wochen war ich mir sicher, dass sie bei ihm wohnt. Wissen Sie, die beiden haben zwar zusammengelebt, aber nicht so richtig. Sie hatte noch ihre ganzen Sachen bei uns, hat sie immer noch, allerdings hat sie nie zwei Tage hintereinander bei uns übernachtet. Nachdem wir eine Woche lang nichts von ihr gehört hatten, haben wir versucht, uns mit ihr in Verbindung zu setzen und schließlich mit David, doch er meinte, er hätte sie nicht gesehen. Ich war der Meinung, dass er lügt und dass er sie wegen irgendwas, das wir vielleicht getan haben, vor uns abschirmte. Doch gleichzeitig war mir klar, dass irgendwas nicht stimmte. Keine Ahnung, woher, ich wusste es einfach. Darum hat Michael, mein Mann, die Polizei verständigt, und wir haben eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Immerhin hatten wir fast eine Woche nichts von ihr gehört. Das sah ihr gar nicht ähnlich.«
»Was kam heraus, als die Polizei David befragt hat?«
»Nichts. Sie sagten, sie hätten keinen Grund zur Annahme, dass er lügt. Aber mich hat das nicht überzeugt. Ich bin mehrmals zu seinem Haus gefahren, doch keine Spur von Rachel. Ich habe mitten in der Nacht an seine Tür geklopft. Erst nach einer Weile wurde mir klar, dass David genauso verzweifelt war wie wir, und von da an habe ich ihn in Ruhe gelassen. Keine Ahnung, ob er glaubt, dass Rachel noch am Leben ist.«
Ich nenne ihr ein paar Namen. Bruce Alderman und Henry Martins. Sie schüttelt den Kopf und will wissen, warum ich danach frage. Ich erkläre ihr, dass ich auf diese Namen gestoßen bin und nicht weiß, ob sie überhaupt etwas mit der Sache zu tun haben. Sie gibt mir eine Liste mit Rachels Freunden und den Leuten von der Arbeit sowie von den Orten, an denen sie sich gerne aufhielt; außerdem mehrere Fotos von Rachel und Davids Adresse. Sie spricht die Sache immer wieder durch, in der Hoffnung auf irgendeinen Hinweis, darauf, dass sie zufällig einen Namen erwähnt, der hilft, ihre Tochter zurückzubekommen.
Dann bringt sie mich zur Tür. Es scheint, als wollte sie mich nicht gehen lassen. Ich fühle mich schuldig, weil ich ihr etwas vorgespielt, ihr neue Hoffnungen gemacht habe; meine Schuldgefühle schlagen mir auf den Magen, und auf dem Weg zum Wagen fängt alles um mich herum an zu schwanken. Die Polizei wird Rachel Tyler identifizieren. Und morgen oder übermorgen hier auftauchen und Patricia sagen, dass ihre Tochter tot ist. Ich kann das nicht verhindern. Kann sie nicht darauf vorbereiten.
Es ist kurz vor acht, und in zwanzig Minuten wird es dunkel sein; bei der dichten Wolkendecke noch früher als sonst um diese Jahreszeit. Die Blumen auf dem Beifahrersitz wirken so frisch, als würden sie noch wachsen. Ich lasse den Wagen an und fahre
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