Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
los, während mich die leise Stimme in meinem Kopf fragt, was ich zum Teufel bloß machen soll, und die lautere, mit der ich tagtäglich mein Verhalten rechtfertige, antwortet, dass ich nicht die geringste Ahnung habe.
Kapitel 8
Mit der Wahrnehmung ist das so eine Sache. Besonders wenn es ums Glück geht. Überlebt jemand einen Flugzeugabsturz, hat er in unseren Augen Glück gehabt. Aber halten wir es auch für Glück, dass er überhaupt im Flugzeug saß? Oder eher für Pech? Und hebt das Pech, in einer Unglücksmaschine zu hocken, das Glück zu überleben wieder auf? Ich verstehe nicht, dass Leute Glück hatten, wenn sie nur einen Arm verloren haben.
Meine Frau hat Glück gehabt. Zumindest behaupten die Leute das. Ein paar Zentimeter weiter links oder rechts, ein, zwei Sekunden früher oder später, und alles wäre anders gekommen. Ich hätte sie bestatten müssen und könnte die Blumen, die ich immer kaufe, nur noch auf ein Grab legen. Zentimeter. Sekunden. Zufall. Glück für sie. Glück für uns alle. Doch das stimmt nicht. Sie hatte kein Glück. Nicht im Geringsten. Sie hatte kein Glück, als der Wagen in sie hineinraste; es war kein Glück, dass ihr Kopf mit vierzig statt mit fünfzig Stundenkilometer auf den Gehweg geknallt ist. Kein Glück, als ihre Beine zerschmettert, ihre Rippen gebrochen wurden. Sie hatte Glück, dass sie überlebt hat, aber eigentlich kann von Glück nicht die Rede sein.
Das Pflegeheim liegt außerhalb der Stadt, dort, wo die Vororte beginnen und der Lärm der Stadt allmählich nachlässt. Das Grundstück umfasst fünf Hektar und ist so malerisch gelegen, dass es sich auch für Hochzeitsfeiern eignet. Das vierzig Jahre alte Gebäude besteht aus grauen Ziegelsteinen, zwischen denen hier und da Fensterbänke aus geschliffenem Eichenholz aufblitzen – die Kombination zweier schlechter Ideen oder zweier guter, die nicht aufgegangen ist. Die lange Auffahrt liegt im Schatten riesiger Bäume, die im Sommer grün sind und im Winter wie Skelette wirken. Ich bremse vor dem Hauptbüro und versuche mir für ein paar Sekunden vorzustellen, dass die Welt, in der wir leben, doch nicht völlig verrückt ist.
Das Hauptportal besteht aus schweren Eichenholztüren, als wollte man die Kranken daran hindern abzuhauen oder die Trauernden dazu verleiten kehrtzumachen. Die Schwester hinter dem Empfangsschalter lächelt mich an. Ihr dunkelrotes Haar passt zum Sonnenuntergang auf dem Bild hinter ihr.
»Hi, Theo. Was haben Sie bloß für Wetter mitgebracht?«
Ich setze ein falsches Lächeln auf, jene Art von Lächeln, das jeder mit guten Umgangsformen aufsetzen würde, wenn das Gespräch plötzlich aufs Wetter kommt. »Morgen bringe ich Sonne mit. Gott schuldet mir noch einen Gefallen.«
Sie nickt zustimmend, was vielleicht so viel heißen soll wie: ja, das tut er. »Sind die Blumen diesmal für mich?«, fragt sie wie immer.
Die Schwestern und Ärzte hier sind stets nett und stets professionell, ihre Fragen und Scherze stets dieselben. Die Alternative wäre unvorstellbar. Würden sie auf die Frage, wie es ihnen geht, die Wahrheit sagen, ließe sich hier niemand mehr blicken.
»Beim nächsten Mal«, sage ich, auch wie immer. »Wie geht’s ihr?«
»Ihr geht es gut, Theo. Aber was ist mit Ihnen? Waren Sie das in den Nachrichten?«
»Ja, es war einer dieser verrückten Tage.« Meinem Gefühl nach eine ziemlich genaue Zusammenfassung der Ereignisse.
Sie nickt. »Von Tag zu Tag kommen einem die Vorfälle in der Stadt verwirrender vor.«
»Manchmal glaube ich, Christchurch geht komplett den Bach runter«, sage ich, »und niemand kann was dagegen tun.«
Ich marschiere den Gang entlang, vorbei an leeren Stühlen, geschlossenen Türen und einem offensichtlich verlassenen Schwesternzimmer, aber wahrscheinlich täuscht der Eindruck. Der Boden ist mit gesprenkeltem Linoleum ausgelegt, einem Belag, von dem sich Blut, Kotze und Scheiße problemlos abwischen lassen und der zweihundert Jahre hält. Draußen ist es kalt, doch die Luft hier drin ist angenehm wie immer, und so soll es auch sein. Einige der Pflegefälle können sich nicht mehr beschweren, und diejenigen, die es könnten, haben einfach keinen Grund mehr dazu. Hier hängen weitere Gemälde von Sonnenuntergängen überm Wasser; friedliche Motive, die die Bewohner beruhigen sollen, bevor sie sich von einer Welt in die nächste begeben. Im Flur stehen Blumentöpfe mit künstlichen Pflanzen. Und irgendwelche Dekorationsobjekte für Leute, die
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