Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
hierherkommen und kurz davor sind, den Verstand zu verlieren.
Ich steige eine Treppe hinauf, und mitten in einem weiteren Flur, vor Bridgets Zimmer, bleibe ich stehen. Die Tür ist offen. Sie sitzt am Fenster und schaut hinaus in den Nieselregen und auf die Bäume, hinaus in das schlechte Wetter, das die Schwestern jedes Mal erwähnen, wenn ich hier auftauche. Bridget scheint sich für alles gleichermaßen zu interessieren. Ich habe keine Ahnung, ob sie mich hört. Als ich die Tür schließe, starrt sie weiter nach draußen.
»Hey, Babe, ich hab dich vermisst«, sage ich, doch sie antwortet nicht.
Ich hebe die Blumen von gestern aus der Vase und stelle die von heute hinein. Sie nimmt keine Notiz davon. Auch nicht, als ich sie zurechtrücke, damit sie hübscher aussehen. Ich setze mich in den Stuhl neben ihr und lege ihre Hand in meine. Sie ist warm. Das ist sie immer, egal wie kalt es im Zimmer ist. Ich bin froh darüber, denn das erinnert mich daran, dass meine Frau noch am Leben ist.
Während ich ihr von meinem Tag erzähle, blinzelt sie hin und wieder. Aber als ich ihr mit einer Bürste durchs Haar fahre und immer wieder leicht dagegendrücke, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken, zeigt ihr Gesicht keinerlei Regung. Sie lacht nicht, als ich ihr erzähle, wie ich ins Wasser geflogen bin. Und macht mir keine Vorwürfe, weil ich Patricia Tyler nicht gesagt habe, dass ihre Tochter die ganze Zeit, in der sie als vermisst galt, tot war. Alle möglichen Geräusche – das Schlurfen anderer Patienten, das Quietschen von Rädern – dringen aus dem Pflegeheim, dem ich irgendwann den Spitznamen »Todeshafen« verpasst habe, zu uns herein. Ich bin mir nicht sicher, wie ich auf den Namen gekommen bin. Und auch nicht, ob diese Metapher mir das Heim nähergebracht hat oder nicht. Jeden Tag komme ich mit der romantischen Vorstellung hierher, dass Bridget zu mir aufsieht und mich anlächelt. Jeden Tag. Doch das tut sie nicht. Trotzdem klammere ich mich an diese Hoffnung, halte aus sentimentalen Gründen an ihr fest, wie Mrs. Tyler an der Vorstellung, dass ihre Tochter bloß fortgelaufen ist und ein perfektes Leben in einer perfekten Stadt lebt und es nur deshalb noch nicht geschafft hat, sie anzurufen, weil sie wunschlos glücklich ist.
Ich rede weiter, bis mein Hals wehtut und mir nichts mehr einfällt. Bridget hat die ganze Zeit teilnahmslos dagesessen, glücklich in ihrer Welt, vielleicht auch traurig; ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, das zu erfahren. Das Fenster und die Bäume dahinter üben auf sie dieselbe Anziehungskraft aus wie an jedem anderen Tag in den letzten zwei Jahren. Ich bin erschöpft, wie immer, wenn ich die Ereignisse des Tages losgeworden bin. Im Zimmer herrscht eine friedvolle Stille, und in diesen Momenten der Stille denke ich oft, dass es mir besser ginge, wenn ich ebenfalls völlig teilnahmslos wäre, unwissend und emotionslos, und Bridget Gesellschaft leisten könnte. Ich sitze da und halte für ein paar weitere Minuten ihre Hand, dann stehe ich auf und ziehe ihre Hand ein wenig nach oben. Sie folgt mir und tritt ans Bett. Ihre Gesten wirken mechanisch, ihr Körper folgt lediglich den Bewegungen. Sie schafft es, vom Bett zum Stuhl zu gehen und wieder zurück. Manchmal finden die Mitarbeiter sie auch, wie sie reglos auf dem Flur steht, zweimal hat sie es sogar runter bis in die Eingangshalle geschafft. Hebt man ihr ein Glas an die Lippen, trinkt sie. Berührt man mit einer Gabel ihren Mund, isst sie. Doch sie kann nicht für sich selbst sorgen, kann nicht sprechen oder einen mit echtem Interesse ansehen. Alles ist tausend Meilen entfernt, und ihre Augen sind auf diesen Punkt in der Ferne gerichtet, halten ständig Ausschau, ohne jemals etwas zu finden.
Sie legt sich hin. Ich küsse sie auf die Seite ihres kalten Gesichts – ihre Arme sind stets warm, ihre Wangen stets kühl -, dann verlasse ich langsam ihr Zimmer. Ohne mich umzudrehen. Das tue ich nie. Ich werde sie morgen wiedersehen. Und übermorgen. Und überübermorgen.
Patricia Tyler ist nicht die einzige Frau in der Stadt, die auf etwas wartet.
Die kalte Luft draußen streicht wie Seide über meine Haut. Fast volle fünf Minuten stehe ich neben meinem Wagen, stehe regungslos da, während der Regen meine Jacke durchnässt. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich gerade über meine Frau nachdenke, über die toten Mädchen oder über das Pech und böse Omen. Endlich bringe ich die Kraft auf loszufahren.
Kapitel 9
Ich schalte mein
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