Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
Handy ein und warte darauf, dass es klingelt, doch es schweigt. Was bedeuten kann, dass woanders in der Stadt jemand umgebracht wurde und die Reporter mich vergessen haben. Oder dass die Polizei weiß, wer die Leichen im Wasser versenkt hat, und meint, man müsste mir nicht Bescheid sagen. Dass Tracey den fehlenden Ring am Finger des Mädchens nicht bemerkt hat und ich nichts zu befürchten habe. Oder aber nichts davon. Vielleicht habe ich einfach nur ein schwaches Signal. Oder mein kleines Bad heute hat das Innenleben des Handys doch noch in Mitleidenschaft gezogen.
Mechanisch betätige ich die Gangschaltung und weiche den anderen Autos aus. Plötzlich wird mir klar, dass ich weder nach Hause noch ins Büro fahre, sondern zurück zum Friedhof, dorthin, wo mein Tag eine interessante Wendung nahm. Wo Tod ist, ist auch Leben – zumindest im Moment. Über das Gelände verstreut stehen mehrere Polizeiautos, die meisten davon am See. Der Eingang wird inzwischen nicht mehr bewacht. Ich beachte die Beamten nicht weiter und begebe mich zur gegenüberliegenden Seite des Friedhofs, dorthin, wo die Toten immer noch in Frieden ruhen.
Auch ohne Taschenlampe schaffe ich es, mir meinen Weg durch die Dunkelheit zu bahnen. Diesen Weg würde ich mit geschlossenen Augen finden. Das Gras hier ist nass, und bald sind die Säume meiner Hose und meine Schuhe ebenfalls feucht.
Es ist zwei Monate her, dass ich bei meiner Tochter am Grab war. Nach der Beerdigung wollte ich nie mehr hierher zurückkehren. Der glatte Grabstein mit der Messingplatte, in die ihr Name und die beiden Datumsangaben eingraviert sind, war ein zu schmerzlicher Anblick. Doch fortzubleiben hat noch mehr geschmerzt. Die Ärzte glauben nicht, dass Bridget von Emilys Tod oder überhaupt von ihrer Existenz weiß. Ich hoffe, sie haben recht – auch wenn mir nicht ganz klar ist, was das über mich verrät. Emily hatte nicht das Glück, in einen katatonischen Zustand zu verfallen, sondern das Pech, getötet zu werden: Sie hatte doppelt so viele Knochenbrüche wie meine Frau; sie ist genauso heftig auf den Gehweg geknallt, genauso ungünstig, und plötzlich war sie tot. So was wie Glück gibt es nicht.
Mittlerweile sind die Tränen ein wenig getrocknet, ist der Schmerz zu einem Teil von mir geworden. Ihn abzuschütteln wäre, als würde ich eine meiner Gliedmaßen verlieren.
Die Blumen auf dem Grab sind verwelkt und vertrocknet. Der Sarg unter der Erde ist ein Kindersarg, und allein die Tatsache, dass es einen Markt für Kindersärge gibt, zeigt, wie sehr diese Welt im Arsch ist – und für einen ganz kurzen Moment denke ich darüber nach, in was für einem Zustand sich der Sarg wohl befindet, ob er eingedrückt und beschädigt ist wie das Exemplar, das vorhin ausgegraben wurde, oder ob er aufgrund seiner geringen Grö ße dem Gewicht der Erde standhalten konnte. Dann frage ich mich, ob sie überhaupt drinliegt.
Ich verzichte darauf, Emily von meinem Tag zu erzählen, denn sie kann mich nicht hören. Emily ist tot, und keine meiner romantischen Vorstellungen aus dem »Todeshafen« reichen bis hierher.
Ich gehe Richtung See und bleibe neben dem Absperrband stehen. Es scheint, dass die Firma, die dieses Zeug produziert, um mit der Kriminalitätsrate in Christchurch mitzuhalten, die Rolle jedes Jahr um eine weitere Meile verlängern muss. Ein gutes Jahr für sie bedeutet ein schlechtes Jahr für uns.
Der Tatort hat Ähnlichkeit mit einer archäologischen Ausgrabungsstätte. Inzwischen stehen mehr Kräne und Laster herum als vorhin. An der Außenseite der Zelte hängen helle Lichterketten, als würde inmitten des ganzen Treibens ein Festumzug stattfinden – nur dass die Teilnehmer Frauen und Männer in verschiedenfarbigen Overalls sind, die hin und her laufen und den Tod anhand von diversen Proben katalogisieren. Irgendwo erhebt sich ein Hügel Erde neben einem weiteren Grab, das geöffnet wurde. Ich danke Gott, dass Emily weitab vom Tatort liegt; und dann verfluche ich ihn, weil ich sie überhaupt erst beerdigen musste. Erst danach wird mir die Ironie meiner Aussage bewusst, denn ich weiß, dass es wahrscheinlich keinen Gott gibt. Wenn doch, dann hat er diese Stadt vor langer Zeit im Stich gelassen.
Ich will gerade unter dem Absperrband durchtauchen, als ein Polizist, der vorhin noch nicht da war, auf mich zukommt und mir erklärt, dass hier für mich Schluss ist.
»Ich will nur wissen, wie’s läuft«, sage ich.
Der Polizist wirft mir einen vielfach bewährten,
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