Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
eiskalten Blick zu und meint, das könne ich morgen in der Zeitung nachlesen. Am liebsten würde ich ihm eine scheuern.
»Hat schon jemand mit dem Friedhofswärter gesprochen?«
»Hören Sie, Sportsfreund, das hier geht Sie absolut nichts an.«
»Ich bin gekommen, um meine Tochter zu besuchen«, sage ich. Vielleicht zieht die Mitleidstour. »Sie liegt hier begraben.«
Er kneift die Augen zusammen, als wolle er mir gleich erzählen, dass eine tote Tochter noch lange keine Einladung ist, überall herumzulaufen, doch dann scheint ihm zu dämmern, dass er so eine Bemerkung schnell bereuen würde.
»Tut mir leid, aber Sie haben sich einen schlechten Moment für Ihren Besuch ausgesucht.«
»Ja, und sie hat sich einen schlechten Moment zum Sterben ausgesucht.«
Er weiß nicht, was er sagen soll, also sagt er nichts, in der Annahme, das sei das Beste, und vermutlich hat er recht. Ich bleibe am Absperrband stehen und versuche mit irgendjemand, der mir was erzählen könnte, Augenkontakt herzustellen, aber dafür ist zu viel los. Der Polizist mustert mich immer noch wie einen Ladendieb. Auch auf dem Weg zurück zum Wagen kann ich die ganze Zeit seinen Blick in meinem Nacken spüren. Wahrscheinlich fragt er sich, ob er mir trauen kann.
Das Friedhofsgelände ist wie ein Golfplatz angelegt, unterteilt in zahlreiche Abschnitte, die durch Hecken, Bäume und Sträucher voneinander getrennt sind. Vom Hauptweg zweigen mehrere Wege in die verschiedenen Bereiche ab; einer der größeren Seitenwege führt zur katholischen Kirche, die links vom Friedhof liegt, etwa vierzig Meter hinter dem Hauptweg. Beide Seiten und die Rückfront sind von einem hufeisenförmigen Wall aus Bäumen umgeben, so dass man sie vom See oder von anderen Teilen des Friedhofs aus gar nicht sehen kann. In genau dieser Kirche wurde vor längerer Zeit die Trauerfeier für mein totes kleines Mädchen abgehalten, und vor kurzem habe ich hier dem Priester die Anordnung für die Exhumierung von Henry Martins vorgelegt.
Ich parke so nah wie möglich an den gewaltigen Eichentoren, durch die selbst ein Riese passen würde, und steige die Steinstufen hinauf. Die Holztür zur Rechten lässt sich leicht und geräuschlos öffnen. Mit jedem meiner Schritte scheint die Temperatur um ein weiteres Grad zu sinken. Das Licht kommt hauptsächlich von den Kerzen, ansonsten ist die Kapelle schwach von ein paar Deckenleuchten erhellt. Hier stehen Dutzende von Bänken, die alle leer sind, außer einer ganz vorne, wo ein Mann gedankenverloren vor sich hinstarrt und mich entweder nicht bemerkt oder nicht beachtet.
Ich gehe das Seitenschiff hinunter und tippe dabei mit den Fingerkuppen auf die Rückseiten der Bänke. Links und rechts, unter bunten Kirchenfenstern mit Jesusdarstellungen, hängen Wandteppiche mit Jesusdarstellungen neben Gemälden mit Jesusdarstellungen. Es gibt hier bestimmt irgendwo einen Souvenirladen, wo man Kaffeetassen mit einem lächelnden Jesus erwerben kann. Am Ende der Kirche, hinter dem Altar, ragt ein großes Holzkreuz auf, an das ein großer Holzjesus genagelt ist. Es scheint Jesus nichts auszumachen, dass er nicht ganz gerade hängt und dass man so viel Werbung für ihn macht.
Bevor ich das Ende des Seitenschiffs erreiche, knarzt eines der Bretter unter mir, und der Priester fährt herum. Er tritt aus der Bank heraus und lächelt mich an, doch nach ein paar Sekunden verschwindet das Lächeln wieder. Es muss schwer für ihn sein, unter dem tagtäglichen Druck die Fassung zu wahren. Priester haben zwar nicht so direkt mit Gewalt zu tun wie die Cops, aber sie hören davon. Schlimmer noch: Sie sind diejenigen, die eine verzweifelte Familie wieder aufrichten müssen, eine Familie, die nicht bloß der Person oder der Krankheit, die ihnen ihren Liebsten genommen hat, die Schuld geben will.
Vater Stewart Julian, ein Mann Ende fünfzig, der hier ist, seit ich denken kann, reicht mir die Hand. In der linken hält er einen unbeschriebenen Notizblock, und auf der Bank, wo er gesessen hat, liegt eine zusammengefaltete Zeitung. Sein sanftes Gesicht, seine grauen Haare und die schwarzen Augenbrauen verleihen ihm ein freundliches Aussehen, auch wenn er momentan einen müden Eindruck macht. Wäre er nicht Priester geworden, hätte er sich als junger Mann vor Frauen wahrscheinlich nicht retten können.
»Was für ein schrecklicher Tag, Theo«, sagt er und schüttelt bekräftigend den Kopf. »Einfach schrecklich.« Er hat eine tiefe, klare Stimme. »Es war ein langer
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