Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
stellte mir meine Familie vor, bis ich einschlief. Ich hatte keine Albträume. Keine Fragen. Keine Schuldgefühle.
Doch diesmal ist es anders.
Ich fahre zurück zum Friedhof. Die Nacht ist kalt, und bis zum Sonnenaufgang sind es noch ein paar Stunden. Unterwegs werfe ich meine Kleidung von gestern in einen Müllcontainer, wie das bereits Hunderte Schuldiger vor mir getan haben. Ich stelle mich an den See, dort, wo man Henry Martins ausgegraben hat, und denke über die Entscheidungen nach, die mich zu dem gemacht haben, der ich jetzt bin. Und ich begreife, dass jemand anders diese Entscheidungen für mich getroffen hat. Quentin James hat mich überhaupt erst auf diesen Trip gebracht. Er ließ mir keine andere Wahl, als mit ihm an den Arsch der Welt zu fahren und ihn dort zurückzulassen. Was hätte ich sonst tun sollen? Ihn seine Zeit im Gefängnis absitzen lassen, damit er nach seiner Entlassung erneut tötet? Scheiß auf die Leute, die Alkoholismus für eine Krankheit halten. Krebs ist eine Krankheit. Erzähl Leuten mit Krebs mal, dass Alkoholismus eine Krankheit ist, und hör dir an, was sie dazu sagen. Man hat die Wahl. Irgendwann fasst man den Entschluss zu trinken. Aber du beschließt nicht, Leukämie zu bekommen. James musste sich also selbst die Schuld geben. Er hat sich entschieden, weiter zu trinken. Er hätte sich auch fürs Aufhören entscheiden können. Dafür, Hilfe zu suchen. Was ich mit ihm gemacht habe, war seine eigene Entscheidung.
Ich kicke einen Erdklumpen ins Wasser und beobachte, wie er versinkt. Gibt es für mich noch irgendwelche Grenzen? Werde ich die nächste Person, die ich für einen Mörder halte, umbringen? Verdammt, was ist, wenn ich das nächste Mal irgendwo in der Schlange stehe und keine Lust mehr habe zu warten? Knalle ich die Leute vor mir einfach über den Haufen? Oder den Typen, der meinen Wagen wartet, weil er mir eine überhöhte Rechnung stellt?
Am Tatort flattert immer noch das Absperrband im Wind. Eigentlich ist es kein richtiger Tatort, sondern ein ruchloser Ort, an dem die Toten durch andere Tote ersetzt wurden. Die Geräte zum Graben sind fort. Die Zelte abgebaut. Und das Gras ist plattgetrampelt. Der Zirkus hat die Stadt verlassen. Ich starre auf den See hinaus und frage mich, wie tief er wohl ist und wie es für die Taucher dort unten im Wasser war. Ich lasse die vergangenen zwei Tage an mir vorüberziehen und suche nach Antworten, doch wenn es welche gibt, dann erkenne ich sie nicht.
Ich lasse den See hinter mir und drehe mich nicht noch einmal um. Neben der umgepflügten Erde am Grab des Friedhofswärters bleibe ich stehen, lausche dem Wind und dem frühen Morgen und frage mich, ob vielleicht eine Stimme unter meinen Füßen hervordringt. Doch da ist nichts. Schließlich fahre ich zur Kirche. Ich lasse den Motor laufen, trete zu den großen Türen und fange an dagegenzuhämmern. Damit breche ich das Versprechen, das ich Vater Julian gegeben habe, mich hier nie wieder blicken zu lassen. Da niemand antwortet, gehe ich um die Ecke und trommle gegen eine der sehr viel kleineren Türen.
Kurz darauf brüllt Vater Julian, ich solle mich einen Augenblick gedulden. Und einen Moment später wird die Tür entriegelt und aufgestoßen. Er trägt einen ausgebleichten Schlafanzug und einen Morgenmantel. Auf einer Seite stehen seine Haare ab.
»Theo. Was machen Sie denn hier? Wissen Sie, wie spät es ist?«
»Sie müssen mir helfen.«
»Ihnen helfen? Das habe ich in letzter Zeit mehr als genug getan.«
»Bitte, es ist wichtig. Sidney Alderman, ist er es gewesen?«
»Ich kann Ihnen nicht …«
Ich strecke die Hand aus und packe seinen Arm, meine andere Hand lege ich ihm auf die Schulter, dann ziehe ich ihn nach vorn, so dass sich unsere beiden Gesichter fast berühren. »War er es?«
»Theo …«
»Wenn er es war, müssen Sie mir das nicht sagen. Dann brauchen Sie das Beichtgeheimnis nicht zu verletzen«, sage ich und höre die Verzweiflung in meiner Stimme. »Aber wenn nicht, wenn er es nicht gebeichtet hat, können Sie mir das sagen. Gott hat bestimmt nichts dagegen.«
»Was haben Sie jetzt schon wieder angestellt, Theo? Was?«
»Sagen Sie’s mir.«
Er sieht mir in die Augen, weil ihm auf diese Entfernung nichts anderes übrig bleibt. Dann schüttelt er langsam den Kopf.
»Gehen Sie nach Hause, Theo.«
»Erst wenn Sie es mir gesagt haben.«
Er greift unter meine Arme und versetzt mir einen Stoß gegen die Brust. Ich taumle zurück, und auch wenn ich nicht
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