Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
dass ich einen Blick hineinwerfen kann. Im Innern, zusammengesackt über dem Lenkrad, hockt eine junge Frau. Wie ich hatte sie keinen Airbag. Ich versuche die Fahrertür aufzuziehen, doch sie hat sich verklemmt. Die Augen der Frau sind geöffnet und nach hinten verdreht. Ihr Kiefer wurde nach vorne geschoben; entweder ist er gebrochen oder verrenkt. Aus ihrem linken Mundwinkel strömt die ganze Zeit Blut. Ich taste meine Taschen ab, bis ich mein Handy gefunden habe. Doch ich kann nichts weiter tun, als es anzustarren.
»Zur Seite«, ruft ein Mann und greift an mir vorbei. Nachdem er es ebenfalls an der Fahrertür versucht hat, läuft er zur Beifahrerseite, die sich mit einem lauten Quietschen öffnen lässt. Er sieht zu mir herüber. »Benutzen Sie das Ding auch mal?«
Ich blicke auf mein Handy. Es hat den Unfall unbeschadet überstanden, doch ich kann immer noch nichts anderes tun, als es anzustarren.
Ich bin soeben zu dem geworden, was ich am meisten verabscheue. Quentin James: hauptberuflicher Säufer und Teilzeit-Killer.
Kapitel 30
Man will mich aufs Polizeirevier bringen, aber erst mal müssen meine Verletzungen versorgt werden. Ich hocke im Heck eines Krankenwagens, und keiner spricht mit mir. Ein Pfleger verarztet meine Wunden, ohne sich dabei allzu große Mühe zu geben. Wie alle anderen wünscht er sich wohl, dass ich der Tote wäre.
Nach einer Weile nimmt ein Polizeibeamter meine Aussage auf. Er kennt mich nicht. Auch nicht meine Vorgeschichte. Ich erzähle ihm, was passiert ist. Und er erklärt mir, dass ich laut Zeugenaussagen über eine rote Ampel gefahren bin, die bereits mindestens zwei Sekunden rot war. Er fragt mich, ob ich etwas getrunken habe. Ich streite es gar nicht erst ab, da er sowieso einen Test mit mir machen wird. Er holt ein Testgerät hervor und fordert mich auf, meinen Namen hineinzusprechen, wie in ein Mikrofon bei einem Interview. Er liest die Zahlen ab und schreibt sie auf. Ich weiß, was sie ihm sagen. Ich liege weit über den Grenzwerten, auch wenn ich mich wieder nüchtern fühle. Kein Wunder, wenn man eine Frau getötet hat.
Im Krankenhaus verfrachtet man mich mit Dutzenden anderer Leute in die Notaufnahme. Mein Bett ist von einem Vorhang umgeben. Die Schnittwunde an meinem Bein wird genäht und verbunden, und man erklärt mir, dass eine Narbe zurückbleiben wird. Der Finger, an dem der Nagel fehlt, wird gesäubert, mit Mull umwickelt und verbunden. Oben an der Stirn habe ich eine weitere Schnittwunde, die genäht wird. Man wischt mir das Blut aus dem Gesicht. Zupft mir das Sicherheitsglas aus den Knien. Und säubert meine verkratzten Handflächen, die voll winziger Kieskörner sind.
Als die Schwester mich verarztet hat, verschwindet sie durch den Vorhang und Landry tritt herein. Mit völlig ausdruckslosem Gesicht, als könnte er sich nicht mal mehr dazu aufraffen, wütend auf mich zu sein. Und das ist noch schlimmer.
»Dass ausgerechnet du besoffen Auto fährst«, sagt er.
»Spar dir deinen Vortrag.«
»Was hast du dir nur dabei gedacht, Tate?«
»Keine Ahnung.«
»Ich hab dich gewarnt.«
»Ich weiß.«
»Mein Gott, sonst fällt dir nichts dazu ein?«
»Ich … keine Ahnung. Ich wünschte, ich könnte irgendwas sagen. Herrgott, ich bin wie betäubt.«
»Die Frau liegt im Koma«, sagt er. »Ihr Zustand ist ernst. Vier gebrochene Rippen und ein durchstochener Lungenflügel, außerdem hat sie sich den Kiefer ausgerenkt. Du hast Glück gehabt, dass sie nicht tot ist.«
Ich habe Glück gehabt.
Mein Herz fängt an zu hüpfen. »Ich … ich dachte, sie ist tot.«
Sie hat Glück gehabt.
Glück.
»Ich weiß. Aber keiner hatte Lust, es dir zu sagen.«
Ich bin so wütend auf mich selbst, dass ich ihm nicht böse sein kann.
»Kommt sie wieder in Ordnung?«
»Du solltest besser beten, Tate.«
In den nächsten Stunden kommt niemand vorbei, um nachzusehen, wie es mir geht, und keiner hat sich die Mühe gemacht, mir irgendwelche Schmerzmittel zu geben, obwohl das Pochen in meinem Kopf und von all den Verletzungen unerträglich wird. Alle kümmern sich um die Frau, die ich verletzt habe, und das sollen sie auch. Ich möchte aufstehen und sie besuchen. Mit ihrer Familie sprechen und ihr sagen, wie leid es mir tut. Aber das geht natürlich nicht. Ich würde nur ihren gesammelten Zorn auf mich ziehen.
Schließlich erscheinen zwei Polizeibeamte, um mich mitzunehmen. Sie verzichten darauf, mir Handschellen anzulegen. Mit knappen Worten und Gesten geleiten sie mich raus
Weitere Kostenlose Bücher