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Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolai Gogol
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Seelen, von der Tochter des Gouverneurs und Tschitschikow, und alles war in unruhige Bewegung gekommen. Es schien gleichsam ein Wirbelwind durch die bisher schlafende Stadt hindurchzubrausen. Alle kamen sie aus ihren Höhlen herausgekrochen: alle die unregsamen Patrone, die ein paar Jahre lang in ihren Schlafröcken zu Hause gehockt und die Schuld bald auf den Schuster geschoben hatten, der ihnen zu enge Stiefel gemacht habe, bald auf den säumigen Schneider, bald auf den betrunkenen Kutscher; alle, die schon längst alle Bekanntschaften abgebrochen hatten; alle, die man nicht einmal durch eine Einladung zu einer Fischsuppe für fünfhundert Rubel mit Sterleten von zwei Ellen Länge und mit allerlei auf der Zunge zergehenden Pasteten hatte aus dem Hause locken können; kurz, es zeigte sich, daß die Stadt eine anständige Größe und Einwohnerzahl hatte. Da sah man auf einmal einen gewissen Sysoi Pafnutjewitsch und einen gewissen Macdonald Karlowitsch, von denen früher nie jemand etwas gehört hatte; in den Salons erschien ein auffällig langer Herr mit einem durchschossenen Arm; er war von so großer Statur, wie man noch nie einen Menschen gesehen hatte. Auf den Straßen erblickte man geschlossene Kutschen, wunderliche Jagdwagen, Kumpelkasten und Quietschkarreten; es herrschte ein bewegtes Treiben. Zu anderer Zeit und unter anderen Umständen hätten derartige Gerüchte vielleicht gar keine Beachtung gefunden, aber die Stadt N. hatte schon seit geraumer Zeit nichts Interessantes erlebt. Im Laufe dreier Monate war nicht einmal etwas von der Art vorgekommen, was man in den Hauptstädten commérage, eine Klatschgeschichte nennt, und was bekanntlich für eine Stadt ebenso notwendig ist wie die rechtzeitige Zufuhr von Lebensmitteln. Was die Auffassung der Sache anlangt, so zeigten sich in der Stadt plötzlich zwei völlig entgegengesetzte Meinungen, und es bildeten sich auf einmal zwei einander gegenüberstehende Parteien, eine männliche und eine weibliche. Die männliche, ganz unverständige Partei, richtete ihr Augenmerk auf die toten Seelen. Die weibliche beschäftigte sich ausschließlich mit der Entführung der Tochter des Gouverneurs. In dieser Partei (das muß man zur Ehre der Damen hervorheben) herrschte unvergleichlich viel mehr Ordnung und Umsicht. Das ist offenbar nun einmal der Beruf der Frauen, gute Wirtschaft zu führen und alles in Ordnung zu halten. Alles nahm bei ihnen bald ein lebendiges, bestimmtes Aussehen und fest umgrenzte Formen an; alles klärte sich und wurde deutlich; kurz gesagt, es ergab sich ein fertiges Bild. Das Resultat war dieses: Tschitschikow war schon lange in das junge Mädchen verliebt gewesen, und sie waren im Garten bei Mondschein zusammengekommen; der Gouverneur hätte ihm sogar ganz gern seine Tochter zur Frau gegeben, weil Tschitschikow reich war wie ein Jude, wenn nicht dessen Frau, die er im Stich gelassen hatte, ein Hindernis gebildet hätte (woher die Damen erfahren hatten, daß Tschitschikow verheiratet sei, das war niemandem bekannt); die Frau hatte, von hoffnungsloser Liebe gequält, einen sehr rührenden Brief an den Gouverneur geschrieben; da Tschitschikow sah, daß der Vater und die Mutter niemals ihre Einwilligung geben würden, so hatte er sich zur Entführung entschlossen. In manchen Häusern wurde die Sache in etwas anderer Form erzählt: Tschitschikow habe überhaupt keine Frau; als ein geschickter Mann, der gern sichergehe, habe er, um die Hand der Tochter zu erlangen, sich zuerst an die Mutter herangemacht und mit dieser eine geheime, intime Liaison gehabt; erst dann habe er um die Hand der Tochter angehalten; die Mutter aber habe aus Angst, daß da ein den Geboten der Religion zuwiderlaufendes Verbrechen zustande käme, und von Gewissensbissen gequält, es ihm rundweg abgeschlagen, und aus diesem Grunde habe sich Tschitschikow zur Entführung entschlossen. Zu alledem traten noch eine Menge von Erklärungen und Berichtigungen hinzu, und zwar um so mehr, je mehr die Gerüchte in die geringeren Nebengassen eindrangen. Denn in Rußland lieben es die unteren gesellschaftlichen Schichten sehr, über die in den höheren Schichten vorkommenden skandalösen Affären zu reden, und daher sprach man von alledem sogar in Häuschen, wo man von Tschitschikow nie etwas gesehen oder gehört hatte, und es kamen Zusätze und noch weitere Erklärungen hinzu. Der Gegenstand wurde mit jedem Augenblicke interessanter, nahm mit jedem Tage bestimmtere Formen an und gelangte

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