Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolai Gogol
Vom Netzwerk:
unbedingt ein Sturm ausbrechen; aber worüber man sich wundern konnte: beide Damen beruhigten sich plötzlich, und es erfolgte gar nichts Schlimmes. Die in jeder Beziehung angenehme Dame erinnerte sich, daß der Schnitt zu dem modernen Kleide sich noch nicht in ihren Händen befand, und die einfach angenehme Dame dachte daran, daß sie noch keine Einzelheiten in betreff der von ihrer Busenfreundin gemachten Entdeckung gehört hatte, und daher schlossen sie schleunigst wieder Frieden. Übrigens kann man von beiden Damen nicht sagen, daß in ihrer Natur das Bedürfnis gelegen hätte, einander Unangenehmes anzutun, und überhaupt war Bosheit ihren Charakteren fremd; wohl aber bildete sich bei ihnen immer ohne besonderen Anlaß und unmerklich im Gespräche von selbst ein leises Verlangen heraus, einander einen Nadelstich zu versetzen; es sagte einfach eine der andern, um sich einen kleinen Genuß zu gönnen, bei Gelegenheit gern ein kräftiges Wörtchen: »Siehst du wohl, da hast du’s! Da, nimm’s hin und schlucke es!« Das Herz hat eben mancherlei Bedürfnisse, sowohl beim männlichen wie beim weiblichen Geschlechte.
    »Unbegreiflich ist mir nur das eine«, sagte die einfach angenehme Dame, »wie Tschitschikow als Durchreisender sich zu einem so gewagten Streich entschließen konnte. Er muß doch jedenfalls seine Helfershelfer dabei haben.«
    »Meinen Sie, er hätte keine?«
    »Aber wer könnte ihm nach Ihrer Meinung behilflich sein?«
    »Nun, zum Beispiel Nosdrew.«
    »Wirklich Nosdrew?«
    »Warum nicht? Das liegt in seiner Art. Sie wissen: er hat seinen eigenen Vater verkaufen oder, besser gesagt, im Kartenspiel verlieren wollen.«
    »O Gott, was für interessante Neuigkeiten erfahre ich da von Ihnen! Ich hätte nie gedacht, daß auch Nosdrew in diese Geschichte verwickelt sei!«
    »Ich aber habe es immer vermutet.«
    »Wirklich, wenn man bedenkt, was alles in der Welt passiert! Konnte man wohl damals, als Tschitschikow in unsere Stadt kam (Sie erinnern sich), konnte man damals vermuten, daß er so sonderbare Geschichten anrichten werde? Ach, Anna Grigorjewna, wenn Sie wüßten, was ich für einen Schreck bekommen habe! Ohne Ihr Wohlwollen und Ihre Freundschaft stände ich wirklich am Rande des Verderbens; ich wüßte mich nicht zu retten. Meine Maschka sah, daß ich leichenblaß war, und sagte zu mir: ›Trauteste gnädige Frau, Sie sind leichenblaß.‹ – ›Maschka‹, sagte ich, ›darum kann ich mich jetzt nicht kümmern.‹ Nein, so eine Geschichte! Also auch Nosdrew ist dabei beteiligt! Na, ich danke schön!«
    Die angenehme Dame hätte gern weitere Einzelheiten über die Entführung erfahren, nämlich zu welcher Stunde sie stattfinden solle, und mehr dergleichen, aber das war zuviel verlangt. Die in jeder Beziehung angenehme Dame erklärte geradezu, nichts darüber zu wissen. Zu lügen verstand sie nicht; eine Vermutung aufzustellen, das war eine andere Sache; aber auch das tat sie nur dann, wenn die Vermutung bei ihr auf innerer Überzeugung beruhte; fühlte sie aber eine solche innere Überzeugung, dann wußte sie auch ihre Vermutungen zu verteidigen; und da hätte der geriebenste Advokat, und wenn er sich noch so gut darauf verstand, fremde Meinungen zu widerlegen, da hätte der einmal versuchen sollen, mit ihr zu disputieren: er hätte gesehen, was eine innere Überzeugung bedeutet.
    Daß die beiden Damen zuletzt völlig von dem überzeugt waren, was sie vorher lediglich vermutet hatten, darin liegt nichts Auffallendes. Wir selbst, wir Gelehrten, wie wir uns nennen, verfahren fast ebenso, und zum Beweise können unsere gelehrten Erwägungen dienen. Zuerst geht so ein Gelehrter an sie wie ein richtiger Gauner heran; er fängt schüchtern und maßvoll an, beginnt mit der ganz bescheidenen Frage: »Kommt das vielleicht daher? Hat dieses Land vielleicht seinen Namen aus dem und dem Winkel erhalten?« oder: »Gehört diese Urkunde nicht einer anderen, späteren Zeit an?« oder: »Muß man unter diesem Volke nicht vielleicht das und das Volk verstehen?« Er zitiert sofort die und die alten Schriftsteller, und kaum sieht er bei ihnen irgendwelche Andeutung oder meint wenigstens eine solche zu sehen, da setzt er sich sofort in Trab, er bekommt Courage, er redet mit den alten Schriftstellern ohne weitere Umstände, legt ihnen Fragen vor, die er dann selbst beantwortet, und vergißt ganz, daß er mit einer schüchternen Vermutung begonnen hat; er glaubt, den Sachverhalt bereits mit Augen zu sehen, hält alles

Weitere Kostenlose Bücher