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Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolai Gogol
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außerordentlicher Klarheit erstand vor seinem geistigen Blicke die längst vergangene Schulzeit, und plötzlich trat ihm, wie lebendig, Alexander Petrowitsch vor die Seele. Die Tränen stürzten ihm stromweise aus den Augen.
    Was bedeuteten diese Tränen? Offenbarte in ihnen seine kranke Seele das schmerzliche Geheimnis ihrer Krankheit: daß es dem großen innerlichen Menschen, der angefangen hatte, in ihm heranzuwachsen, nicht gelungen war, sich auszubilden und zu erstarken; daß er, nicht von klein auf im Kampfe mit Mißgeschick geübt, nicht zu der herrlichen Fähigkeit gelangt war, gerade durch das Ringen mit Hindernissen und Hemmungen größer und stärker zu werden; daß ein reicher Schatz herrlicher Gefühle wie glühendes Metall zerschmolzen war und nicht die letzte Härtung erfahren hatte; daß der seltene Lehrer allzufrüh für ihn gestorben war und es jetzt niemanden in der ganzen Welt gab, der imstande gewesen wäre, die durch das stete Hin- und Herschwanken erschütterten Kräfte und den der Energie beraubten schwachen Willen zu kräftigen und der Seele das belebende, ermunternde Wort »Vorwärts!« zuzurufen, dieses Wort, nach dem der Russe überall dürstet, auf welcher gesellschaftlichen Stufe er auch stehen und welchem Stande, Berufe und Erwerbszweige er auch angehören mag?
    Wo ist der Mann, der es versteht, in der eigenen Sprache unserer russischen Seele uns dieses allmächtige Wort »Vorwärts« zuzurufen? Der Mann, der alle Kräfte und Eigenschaften und die ganze Tiefe unseres Wesens kennt und mit einem einzigen zauberkräftigen Winke uns die Richtung zu einem höheren Leben geben kann? Mit welchen Tränen, mit welcher Liebe würde es ihm der dankbare Russe lohnen! Aber Jahrhunderte auf Jahrhunderte vergehen; in ganz Rußland sieht man nichts als schmähliche Trägheit und sinnlose Geschäftigkeit unreifer Jünglinge … und Gott gibt uns nicht den Mann, der es verstände, jenes Wort auszusprechen!
    Ein Umstand hätte ihn beinahe aufgeweckt, beinahe einen Umschwung in seinem Charakter herbeigeführt: es begegnete ihm etwas, was mit Liebe Ähnlichkeit hatte. Aber auch hier verlief die Sache resultatlos. In der Nachbarschaft, zehn Werst von seinem Dorfe entfernt, wohnte ein General, der sich, wie wir gesehen haben, nicht mit besonderem Wohlwollen über Tentetnikow aussprach. Dieser General lebte wirklich wie ein General: er übte eine weitgehende Gastfreiheit und hatte es gern, wenn die Nachbarn zu ihm kamen, um ihm ihren Respekt zu bezeigen; er selbst erwiderte die Besuche nicht, sprach mit heiserer Stimme, las Bücher und hatte eine Tochter, ein seltsames Wesen, das nicht seinesgleichen hatte. Sie hatte etwas überaus Lebendiges; sie war das verkörperte Leben selbst.
    Sie hieß Ulinka. Ihre Erziehung war eine sehr sonderbare gewesen. Sie war von einer englischen Gouvernante unterrichtet worden, die kein Wort Russisch verstand. Ihre Mutter hatte sie verloren, als sie noch ein Kind war. Der Vater hatte für sie wenig Zeit. Da er übrigens seine Tochter sinnlos liebte, war es nicht anders möglich, als daß er sie verwöhnte. Wie ein in völliger Freiheit aufgewachsenes Kind folgte sie in allen Dingen ihrem eigenen Willen. Wenn jemand gesehen hätte, wie ein plötzlich aufflammender Zorn strenge Runzeln auf ihrer schönen Stirn hervorrief, und wie sie hitzig mit ihrem Vater stritt, so hätte er denken können, daß sie das launischste Geschöpf von der Welt sei. Aber ihr Zorn loderte nur dann auf, wenn sie von einer Ungerechtigkeit oder schlechten Handlungsweise hörte, wer auch immer sie begangen hatte. Und niemals stritt sie für sich selbst; niemals suchte sie sich zu rechtfertigen. Dieser Zorn verschwand in dem Augenblicke, wo sie eben den, dem sie gezürnt hatte, im Unglück sah. Bei der ersten Bitte um eine Gabe, mochte der Bittende sein, wer er wollte, war sie imstande, ihm ihre Börse mit dem gesamten Inhalt hinzuwerfen, ohne sich auf Überlegungen und Berechnungen einzulassen. Es war in ihr eine Art von ungestümem Streben. Wenn sie sprach, so schien alles an ihr dem Gedanken nachzustreben: der Ausdruck ihres Gesichtes, der Klang ihrer Rede, die Bewegung ihrer Hände; sogar die Falten ihres Kleides strebten gleichsam nach derselben Seite hin, und es schien, als werde sie im nächsten Augenblicke selbst hinter ihren eigenen Worten herfliegen. An ihr war nichts Verstecktes. Sie hätte sich vor keinem Menschen gescheut, ihre Gedanken auszusprechen, und keine Macht der Welt hätte sie zum

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