Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
sie bis zu halber Höhe. Nachdem er ihre Mitte erreicht hatte, ließ er sich von dort wieder herabhängen und begann nunmehr die Wipfel anderer Bäume zu umspinnen oder hing auch in der Luft, indem er seine feinen, sich gern anklammernden, leise in der Luft schwankenden Haken zu Ringen zusammenschloß. An einzelnen Stellen trat das grüne, hell von der Sonne beschienene Dickicht auseinander, und es zeigte sich in den Lücken eine unerleuchtete Tiefe, die wie ein dunkler Rachen gähnte; sie lag ganz im Schatten, und in ihrem schwarzen Grunde waren nur wenige Dinge mit Mühe zu erkennen: ein schmaler Fußweg, der sich dahinzog, ein zerbrochenes Geländer, eine wackelige Laube, der hohle, morsche Stamm einer Weide, ein grauer Erbsenstrauch, der seine infolge des schrecklichen Dickichts vertrockneten und kreuz und quer durcheinanderstehenden Blätter und Zweige wie eine dichte Bürste hinter der Weide hervorstreckte, und endlich ein junger Ahorntrieb, der seine grünen, handförmigen Blätter sperrig ausbreitete, unter deren eines ein Sonnenstrahl Gott weiß wie gelangt war, der es nun plötzlich durchscheinend und glühend machte und in dieser dichten Finsternis wundervoll aufleuchten ließ. An der Seite, ganz am Rande des Gartens, trugen einige hochgewachsene, die anderen Bäume überragende Espen gewaltige Krähennester in ihren zitternden Wipfeln. Bei manchen von ihnen hingen gebrochene, aber noch nicht ganz losgelöste Äste mit vertrockneten Blättern herunter. Kurz, alles war schön, so schön, wie es weder die Natur noch die Kunst aussinnen kann, sondern wie es nur dann zustande kommt, wenn sie sich beide vereinigen, wenn die Natur über das, was der Mensch oft ohne Vernunft geschaffen hat, zum Abschluß mit ihrem Meißel dahingeht, die schweren Massen leicht erscheinen läßt, die grobwirkende Regelmäßigkeit aufhebt, die bettlermäßigen Löcher schließt, durch die die unverhohlene, nackte Absichtlichkeit hindurchsieht, und allem, was in der Kälte erklügelter Reinlichkeit und Sauberkeit entstanden war, eine wundervolle Wärme verleiht.
Nachdem unser Held noch ein oder zwei Biegungen gemacht hatte, befand er sich endlich vor dem Hause selbst, das nun einen noch trübseligeren Eindruck machte. Grüner Schimmel bedeckte schon das alte Holz am Zaun und am Tor. Auf dem Hofe standen eine Menge offenbar schon baufällige Gebäude: Leutewohnungen, Speicher, Vorratshäuser; daneben waren rechts und links Tore sichtbar, die nach anderen Höfen führten. Alles ließ erkennen, daß hier einmal eine Wirtschaft in großem Stil geführt worden war, und alles sah jetzt kläglich aus. Es war nichts zu bemerken, was etwas Leben in das Bild gebracht hätte: keine Tür öffnete sich, nirgends kamen Leute heraus, nirgends reges Treiben und Schaffen! Nur das Haupttor war geöffnet, und zwar deswegen, weil ein Bauer mit einem beladenen Wagen hereinfuhr, der mit einer Bastmatte zugedeckt war; dieser Bauer schien absichtlich dazu da zu sein, um die ausgestorbene Örtlichkeit zu beleben; zu anderer Zeit war auch dieses Tor offenbar fest verschlossen, da an der eisernen Öse ein großes Schloß hing. Bei einem der Gebäude bemerkte Tschitschikow bald eine Gestalt, die mit dem Bauer, welcher mit dem Wagen gekommen war, zu zanken anfing. Lange konnte er nicht darüber ins klare kommen, welchem Geschlechte diese Gestalt angehörte, ob sie ein Mann oder ein Weib war. Ihre Kleidung war von ganz unbestimmtem Charakter und hatte große Ähnlichkeit mit einem Frauenrock; der Kopf war mit einer Mütze bedeckt, wie sie auf dem Lande die Frauen des Hofgesindes tragen; nur die Stimme schien ihm etwas rauh für eine Frau. »Ach, es ist eine Frau!« dachte er bei sich und fügte sofort hinzu: »Ach nein!« – »Gewiß, es ist eine Frau!« sagte er schließlich nach möglichst genauer Betrachtung. Die Gestalt blickte ihn ihrerseits ebenfalls unverwandt an. Der Besucher schien für sie eine Art Wundertier zu sein, denn sie musterte nicht nur ihn, sondern auch Selifan und die Pferde vom Schwanz bis zur Schnauze. Aus dem Schlüsselbund, das sie am Gürtel hängen hatte, und daraus, daß sie den Bauer mit recht kräftigen Schimpfworten ausschalt, schloß Tschitschikow, daß es gewiß die Wirtschafterin sei.
»Hör mal, Mütterchen«, sagte er, aus der Britschke steigend, »ist der Herr …«
»Er ist nicht zu Hause«, unterbrach ihn die Wirtschafterin, ohne den Schluß seiner Frage abzuwarten, und fügte dann nach einer kleinen Pause hinzu: »Was
Weitere Kostenlose Bücher