Die Toten Vom Karst
ihr nichts passieren. In den nächsten Tagen würde sie nur ausgehen, wenn viele Menschen auf der Straße waren. Aber sie mußte ohnehin nicht hinaus. Sie war noch zwei Wochen krank geschrieben und hatte das Nötigste im Haus. Und wenn etwas fehlte, konnte Nicoletta es besorgen. Morgen würde sie oben Ugos Sachen sortieren und die Kleider packen, damit die Armenhilfe sie abholen konnte. Viel Arbeit konnte die Wohnung nicht machen. Vielleicht würde sie dann sogar selbst einziehen, weil es bei ihr mit den Jahren so eng geworden war. Aber wer paßte eigentlich auf Nicoletta auf? Über diesem Gedanken nickte Bruna vor dem laufenden Fernseher ein.
Kurz nach Mitternacht hörte Bruna laute Schritte im Treppenhaus. Sie schaltete den Fernseher aus und ging leise durch den Flur. Sie sah das Treppenhauslicht durch die Türritze und ging auf Zehenspitzen weiter. Sie hörte die Schritte auf der unteren Treppe und erkannte, daß sie immer wieder innehielten. Als würde jemand verharren, um zu lauschen. Wie sie, aber auf der anderen Seite der Tür und noch ein paar Meter entfernt. Es schien ihr eine Ewigkeit, die sie im dunklen Flur stand und kaum zu atmen wagte. Dann hörte sie die Schritte wieder und wußte, daß sie näher kamen. Und dann gab es wieder eine Pause, aus der sie aufschreckte, als sie den klirrenden Lärm splitternden Glases vernahm. Sie hörte schweren Atem. Der Mann war direkt vor ihrer Tür. Bruna ging leise ins Wohnzimmer zurück, tastete nach dem Telefon und wählte die 113. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich die Einsatzzentrale der Polizia di Stato. Ganz leise sprach sie in den Hörer.
»Hören Sie, er ist da! Er steht vor meiner Tür. Kommen Sie schnell.«
»Wie heißen Sie? Nennen Sie bitte Ihren Namen.«
»Bruna Saglietti«, flüsterte sie und der Beamte ergänzte so schnell, daß sie staunte, Straße, Hausnummer und Stockwerk. Ein Blick auf den Telefoncomputer hatte gereicht.
»Was ist genau los, Signora?«
»Er steht draußen. Er will mich umbringen. Ich kann ihn hören.«
»Wer?« Der Beamte gab via Computer den Einsatzbefehl an einen Streifenwagen.
»Ich weiß es nicht! Entweder Gubian oder Mario.«
»Ich schicke Ihnen einen Wagen. Wie heißt dieser Mario mit Nachnamen?«
»Einer von beiden. Ich muß auflegen, sonst hört er mich.«
»Legen Sie nicht auf, Signora. Bleiben Sie unbedingt am Apparat! Hören Sie, Signora? Wir können Ihnen besser helfen, wenn …«
Er war zu langsam. Bruna hatte ganz leise den Hörer aufgelegt und tapste zurück in den Flur. Wieder hörte sie den schweren Atem direkt vor ihrer Tür und ein Geräusch, das nur von einem Schuh kommen konnte, der sich langsam auf Glassplittern bewegte. Dieses Geräusch kannte sie. Vor ein paar Tagen hatte sie es oben gehört, als Ugo die Weinflasche an der Wand zertrümmerte. Dienstag morgen mußte das gewesen sein. Sie hörte, wie etwas an ihrer Tür entlang strich und kurz darauf einen dumpfen Schlag gegen das Holz. Auch die Klinke hatte sich bewegt. Aber die Kette hing davor und den Schlüssel hatte sie zweimal umgedreht, da gab es keinen Zweifel. Dann hörte sie ein Kratzen und einen schweren Gegenstand, der an der Tür entlang strich und auf dem Boden zu liegen kam. Sie stand da wie gelähmt und wagte nicht, sich zu bewegen.
Das Klingeln an der Haustür riß sie aus der Erstarrung. Das mußte die Polizei sein. Schnell suchte sie im Dunkeln den Türöffner und ließ ihn nicht mehr los, als könnte das das Eintreffen ihrer Retter beschleunigen. Sie hörte, wie Männer in schweren Schuhen die Treppe heraufrannten und dann Geschrei. Erst jetzt wagte Bruna, an die Tür zu treten und durch den Spion zu schauen. Sie sah die Schulter eines Uniformierten und hörte eine laute Auseinandersetzung. Ein Mann protestierte undeutlich, wirr und lautstark gegen seine Festnahme. Dann Stille bis es an ihrer Tür klingelte. Bruna sah durch den Spion einen Polizisten mit ausdruckslosem Gesicht. Sie drehte den Schlüssel im Schloß, ließ aber die Kette hängen. Sie öffnete die Tür einen Spalt breit.
»Ja?«
»Polizia di Stato. Signora Bruna Saglietti?«
»Ja?«
»Sie haben uns gerufen. Sind Sie in Ordnung?«
»Ja.«
»Öffnen Sie bitte! Erzählen Sie uns, was los ist.«
»Nein.«
»Signora, bitte öffnen Sie!«
»Ist er noch da?«
»Wir haben ihn festgenommen. Haben Sie keine Angst! Bitte öffnen Sie.«
»Einen Augenblick! Ich komme gleich.«
Bruna drückte die Tür wieder in das Schloß, schaltete endlich das Licht an und
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