Die Toten von Bansin
sich bequeme Sachen an: eine alte Jeans und einen dicken Pullover, ihr ist etwas kalt. Die Hose, die sie eben ausgezogen hat, hängt sie sorgfältig auf einen Bügel. Alle anderen getragenen Kleidungsstücke rafft sie zusammen und nimmt sie mit nach unten. Morgen wird sie waschen. Und putzen. Und einkaufen.
Als sie über den Flur geht, bleibt sie vor dem Arbeitszimmer kurz stehen, öffnet die Tür aber nicht. Beim Bau des Hauses war hier das Kinderzimmer geplant. Wie optimistisch sie damals waren! Sie blickt aus dem Flurfenster in die Dunkelheit über den Garten. Als sie hier einzogen, stand alles in voller Pracht. Die Obstbäume trugen in jenem Jahr schwer an ihren Früchten, das meiste Gemüse war erntereif. Sie erinnert sich genau, wie sie zu Manfred sagte: »Das ist die schönste Zeit des Jahres.«
Er hatte gelacht und sie zärtlich auf die Nasenspitze geküsst. »Das sagst du doch immer.«
Es stimmte. Wie oft hat sie hier hinausgesehen und dasselbe gedacht. Im Frühjahr, wenn die gelben Forsythien blühten und dann der Flieder, im Sommer, wenn alles grün war, danach hatte sie das reife Obst bewundert und ihre geliebten Dahlien. Damals mochte sie auch die Ruhe, die die Natur im Winter ausstrahlte. Wann ist ihre Lebensfreude verloren gegangen? Warum? Was war einst anders?
Sie sieht wieder auf die geschlossene Tür. Ja, natürlich, sie hatten an ein Kind gedacht. Aber der Wunsch war nie zwanghaft. Die Jahre waren vergangen, manchmal sprachen sie darüber, man sollte vielleicht mal zu einem Spezialisten gehen, aber dann war doch wieder anderes wichtiger und es hatte durchaus seine Vorteile, kinderlos zu sein. Das Leben war so bequem, beide arbeiteten, man konnte sich einiges leisten, teure Reisen, ein schickes Auto, mehrmals im Monat aÃen sie in guten Restaurants. Irgendwann hatten sie sich stillschweigend damit abgefunden, ein kinderloses Ehepaar zu bleiben. Manfred war es, der vorschlug, etwas mit dem leer stehenden Raum anzufangen. Im Kollegenkreis hatte er etwas von einem Tussizimmer gehört.
»Du könntest da drin ja nähen oder irgendwelche Handarbeiten machen oder malen, was weià ich«, schlug er etwas unbeholfen vor.
Christine hatte ihn nur sprachlos angesehen. Es konnte doch nicht sein, dass ihr Manfred sie so wenig kannte. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch keine derartigen Hobbys gehabt und auch nicht vor, damit anzufangen. Damals hatte sie ihn nur kopfschüttelnd stehen lassen, auch deshalb, weil sie ihre eigenen Gefühle nicht verstand. Sie verstand nicht, warum sie nicht entsetzt war, oder doch wenigstens enttäuscht. Hegt nicht jede normale Frau naturbedingt den Wunsch, Mutter zu werden? Aber zu ihrem eigenen Erstaunen war sie nur erleichtert. Ihr Leben war gut, so wie es war, und so konnte es jetzt auch bleiben.
Dann schloss das kleine Textilgeschäft, in dem sie viele Jahre gearbeitet hatte. Ihr alter Chef setzte sich zur Ruhe. Vielleicht hätte sie sein Angebot, den Laden zu übernehmen, annehmen sollen. Manfred hatte sie dazu ermutigt, er hatte aber auch gleich dazu gesagt, sie müsse dann endlich an einem Computerkurs teilnehmen, ohne PC-Kenntnisse könne man heute nicht mal mehr den kleinsten Laden führen. Doch ihr grauste vor jeder modernen Technik, sie konnte nicht mal den DVD-Recorder programmieren. Dann würde sie sich eben eine neue Stelle suchen. Als Verkäuferin würde sie immer Arbeit finden, zumindest im Sommer. Im Stillen dachte sie, dass sie den Winter über auch gern mal zu Hause bleiben würde, schlieÃlich verdiente Manfred genug für sie beide.
Halbherzig bewarb sie sich hier und da, arbeitete mal einen Sommer als Kellnerin in einem Hotel, aber das war ihr dann doch zu anstrengend. Ãberhaupt hatte sie plötzlich das Gefühl, alt zu sein. Sie war erst Mitte vierzig, aber alle Kolleginnen schienen jünger zu sein, schneller, leistungsfähiger und vor allem war sie anscheinend der einzige Mensch, der nicht mit dem Computer, den modernen Kassen und dem Faxgerät umgehen konnte. Auf ihrer letzten Arbeitsstelle wurde ihr nach der Probezeit als Verkäuferin angeboten, als Putzfrau weiterzuarbeiten. Empört hatte sie abgelehnt und war von da an durchgehend zu Hause geblieben.
Hier fühlte sie sich eigentlich auch am wohlsten. Im Haus und im Garten gab es schlieÃlich genug zu tun. Nun konnte sie auch täglich für Manfred kochen und es ihm richtig
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