Die Toten von Bansin
Kopfschmerzen.«
Sie geht ins gemeinsame Schlafzimmer und Marianne Weber räumt die Küche auf. Es bedrückt sie sehr, dass ihre Tochter die Krankheit anscheinend von ihr geerbt hat. Dabei war Inka so ein fröhliches, ausgeglichenes Kind. Bis zu dem Tag, als der fremde Junge ertrunken ist. Seitdem ist sie in psychiatrischer Behandlung. Meist geht es ihr tagsüber gut, sie ist fast wie früher, nur etwas nervöser, reizbarer. Aber nachts wird sie von Albträumen geplagt, so schlimm, dass sie nicht mehr allein in einem Zimmer schlafen will. Und sie will nie ein eigenes Kind haben. Sie ist überzeugt, dass es sterben würde.
»Es ist noch ganz klein, aber es ertrinkt, ich kann ihm nicht helfen. Es ist ganz allein, ich bin nicht da. Es hat Angst. Aber es ertrinkt. Und ich auch.«
Das hat Inka ihrer Mutter zugeflüstert, eines Nachts, als sie sie aus einem bösen Traum geweckt und in den Arm genommen hatte, um sie zu beruhigen.
Eine ganze Zeit schien es ihr besser zu gehen. Im letzten Jahr hat sie sich wieder viel mehr im eigenen Zimmer aufgehalten, oft auch dort geschlafen. Und durch die unlängst begonnene Arbeit als Reiseleiterin ist sie selbstbewusster und sicherer im Umgang mit anderen Menschen geworden.
Marianne Weber hat so gehofft, dass ihre Tochter die Krankheit überwunden hat. Aber im Moment scheint es ihr gar nicht gut zu gehen. Auch heute hält es Inka nicht lange allein im Zimmer aus. Schon nach zehn Minuten kommt sie wieder heraus und geht ins Bad, um sich die Haare zu kämmen.
»Ich geh noch mal weg, ins Kehr wieder zum Kaffeetrinken. Anne und Sophie haben mich eingeladen. Möchtest du mitkommen?«
»Nein, geh du mal. Ich mache lieber noch einen Spaziergang.«
Inka nickt ihrer Mutter zu und macht sich auf den Weg.
DrauÃen hat die Ostsee den Strand vollkommen verschlungen, das Wasser wird erst von den Dünen aufgehalten. Das Heulen des Sturmes und das Rauschen des Meeres übertönen heute sogar das Gekreische der Möwen.
Hohe Wellen brechen sich an den Pfählen der Seebrücke, drücken von unten an den Steg, einige der Planken wird man im Frühjahr wieder befestigen oder austauschen müssen. Es kommt häufig vor, dass die Seestege ab November gesperrt sind. Sie werden dann erst kurz vor Ostern repariert, vorher lohnt es sich nicht, weil Wasser oder Eis, vom Sturm bewegt, die Bauwerke beschädigen. Im Winter dienen sie ohnehin nur zum Promenieren, es fahren keine Ausflugsschiffe an der AuÃenküste entlang.
Berta, die Inka schon von der Promenade aus gesehen hat, kommt kurz nach ihr mit Bobby an der Leine in die Gaststätte. Sie streift die Kapuze ab, zieht die Jacke aus und reibt die Hände aneinander.
»Ist das ungemütlich. Nun bläst es aber richtig. Ach, hier bist du«, sagt sie zu Plötz, der am Stammtisch sitzt und an einem Grog nippt. Er sieht ganz fremd aus ohne seine Fischerkleidung. Stattdessen trägt er heute eine dunkelblaue Hose mit Bügelfalten und einen weiÃen Rollkragenpullover. »Ich war gerade am Strand, ich dachte, ihr seid noch in der Bude und ich treffe dich an.«
»Nee, wir waren nur heute Vormittag kurz unten. Haben das Boot hochgeholt. Die Bude wird gar nicht warm, bei dem Sturm. Der bläst durch alle Ritzen.«
»Ja, klar. Sophie, gib mir mal auch erst einen Grog, zum Aufwärmen. Wegen der Kälte ist weit und breit kein Mensch am Strand. Nur der WeiÃhaarige schlich da rum. Der ist mir manchmal direkt unheimlich.«
»Ach was, der ist harmlos. Ein bisschen seltsam, vielleicht. Ist auch nicht gut, wenn einer immer alleine ist. Ich wollte ihn ja schon mal mit herbringen, aber er wollte nicht. Hat auch wohl nicht viel Geld.«
»Na, das haben wir alle nicht. Kannst ihm doch sagen, dass Sophie es für Einheimische billiger macht. Aber der ist früher bei mir auch nicht oft hier gewesen.«
Christine Jahn, die inzwischen eine Bockwurst gegessen und Kaffee getrunken hat, lehnt sich entspannt zurück. Sie wollte eigentlich mit Berta allein reden, aber nun fühlt sie sich schon viel besser und möchte ihre Probleme nur noch vergessen. Vielleicht kann Berta sie ja heute Abend nach Hause bringen, dann kann sie ihr zeigen, was in ihrer Wohnung passiert ist. Aber eine Erklärung wird wohl auch die Alte nicht finden.
Sophie deckt den Stammtisch mit Tellern und Tassen ein. »Trinkst du auch Kaffee?«, fragt sie Plötz.
Der nickt.
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