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Die Toten Von Jericho

Die Toten Von Jericho

Titel: Die Toten Von Jericho Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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gelegen. Sie sollte sich ja in der Küche … Der Brief hatte vier Seiten umfaßt, sie hatte es genau gesehen, obwohl er ihn ihr, als sie noch nicht einmal ganz bis zur Hälfte gekommen war, plötzlich recht unsanft weggenommen hatte. Ob sie sich noch an den Inhalt erinnern könne? Sie wiegte nachdenklich den Kopf. Nur so ungefähr. Es sei eigentlich fast eine Art Liebesbrief gewesen. Anne Scott habe dem Mann, an den sie schrieb, beteuert, daß sie immer nur ihn geliebt habe und daß er das nie vergessen und sich keine Vorwürfe machen solle, was immer auch geschehen möge. Es sei allein ihr Entschluß …
    Morse hatte ihr schweigend zugehört. »Noch mal zurück zu Jackson – hat er Sie sonst noch um irgend etwas gebeten, was Sie für ihn tun sollten?«
    »Nein. Ich sollte ihm nur den Brief vorlesen. Sonst nichts – wirklich! Wenn Sie wollen, dann schwöre …«
    »Sie haben also keine Telefonnummer für ihn herausgesucht?«
    Sein Ton war ruhig und freundlich, aber die Frage schien ihr den Rest zu geben. Sie brach in Tränen aus und beteuerte schluchzend, nein, sie habe ihm keine Telefonnummer herausgesucht, wirklich nicht, aber er habe sie gefragt, wie man die Auskunft anrufen könne, und sie habe es ihm erklärt. Erst hinterher habe sie dann angefangen zu überlegen, wen Mr Jackson da wohl anrufen wolle. Und da sei ihr, wenn sie ganz ehrlich sei, schon der Gedanke gekommen … Und deswegen schäme sie sich jetzt auch so. Nie vorher in ihrem Leben habe sie etwas Unrechtes getan, und nun …
    »Ja, aber jetzt haben Sie uns alles erzählt, und es tut Ihnen leid. Jeder Mensch hat einmal eine schwache Stunde. Sie haben sicher nur eine kleine Rente, und fünfundzwanzig Pfund waren eine große Versuchung. Gehen Sie nicht zu hart mit sich ins Gericht! Was uns angeht, ist die Sache jetzt jedenfalls erledigt, nicht wahr, Sergeant?«
    Lewis, der nicht damit gerechnet hatte, noch in das Gespräch einbezogen zu werden, brachte in seiner Verwirrung nur ein unbestimmtes Grunzen heraus, das Morse jedoch für Zustimmung zu nehmen schien, denn gleich darauf wandte er sich wieder Mrs Purvis zu.
    »Und nun hätte ich noch eine letzte Frage an Sie, Mrs Purvis. Können Sie sich vielleicht noch erinnern, wie der Name des Mannes lautete, an den Ms Scott geschrieben hatte? Sie wird doch irgendeine Anrede benutzt haben …«
    Mrs Purvis biß sich auf die Lippen. Sie hätte so gern geholfen, aber sie konnte beim besten Willen nicht mehr sagen …
    »War es möglicherweise Charles?«
    Mrs Purvis strahlte plötzlich übers ganze Gesicht. »Mein lieber Charles«, sagte sie, »die Anrede lautete: Mein lieber Charles.« Sie sah glücklich aus. Vielleicht hatte sie ja dadurch, daß sie sich erinnert hatte, ihre Schuld ein bißchen wieder gutgemacht?
    Der Kater Graymalkin reckte sich und sah ihnen mit unergründlichem Blick nach, als sie das Zimmer verließen. Dann legte er den Kopf auf die Pfoten und schloß die Augen – im Haus war wieder Ruhe eingekehrt.
    Gegen Abend fuhr Morse nach Headington in das John Radcliffe Zwei und sprach mit der Schwester, der die Intensivstation unterstand. Auf Zehenspitzen betraten sie das Zimmer, in dem Michael Murdoch lag, und blieben am Fußende des Bettes stehen.
    »Ich darf ihn nicht wecken. Er braucht den Schlaf«, flüsterte sie ihm zu.
    Morse nickte und sah auf den Jungen, dessen Gesicht durch den weißen Verband halb verdeckt war. Er zog die Karte mit den Krankendaten aus dem Halter und begann sie zu überfliegen, doch die Aufzeichnungen sagten ihm nicht viel. Sein Blick wanderte zum Kopf der Karte: Michael Murdoch, geb. 2.Okto … Er steckte die Karte zurück. Eine ungeheuerliche Ahnung stieg in ihm auf …
    Die Fakten lagen alle klar zutage, doch es bedurfte mehrerer Stunden Nachdenkens und einer halben Flasche Whisky, bis Morse sich sicher war. Er wußte jetzt, warum Anne Scott Selbstmord begangen hatte.
     

Kapitel Zweiunddreißig
     
    Ein Mann ohne eine Adresse ist ein Vagabund,
    ein Mann mit zwei Adressen ein Libertin.
    George Bernard Shaw
     
    Detective Constable Walters hatte, nachdem seine Mitarbeit am Fall Jackson durch Bells Beförderung zu einem abrupten Ende gekommen war, keine Gelegenheit mehr gehabt, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, und auch der neue Fall, der ihm jetzt zur Bearbeitung übertragen worden war, ein Villeneinbruch in Nord-Oxford, bot, wie es aussah, dazu keine Möglichkeit. Die Täter waren durch ein offenes Fenster im ersten Stock des Hauses eingestiegen,

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