Die Toten Von Jericho
großer Erfolg für sie gewesen. Hinter Charles’ Schreibtisch sitzend, hatte sie Telefongespräche geführt, Briefe diktiert, Kunden empfangen und einen lästigen Vertreter abgewimmelt. Die Selbstverständlichkeit, mit der ihr die Arbeit von der Hand ging, die Sicherheit, die sie dabei gespürt hatte, hatten sie selbst überrascht. Tätigkeit war offenbar genau das, was sie brauchte, um ihr angeknackstes Selbstvertrauen wieder zu stärken; und wenn in einem Augenblick der Ruhe plötzlich eine Welle von Panik sie zu überschwemmen gedroht hatte, hatte sie energisch dagegengehalten. Manchmal allerdings hatte sie das Gefühl gehabt, als sei es ihr nur ganz knapp gelungen, den Kopf über Wasser zu halten … Charles fehlte ihr doch sehr! Seine Vitalität und sein Elan waren die Quelle gewesen, aus der sie in der Vergangenheit immer wieder neue Kraft für sich geschöpft hatte. Und ungeachtet dessen, was geschehen war, würde er auch in Zukunft der einzige Mann bleiben, den sie liebte.
Sie war gerade dabei, ihre Sachen wegzuräumen, als um zehn nach zwölf das Telefon klingelte. Der Anruf kam aus Madrid. Es war Charles.
Kaum war sie zu Hause, erhielt sie einen zweiten Anruf. Detective Chief Inspector Morse wollte von ihr wissen, wann sie ihren Mann zurückerwartete, und sie teilte ihm mit, daß er am kommenden Montag um 10.40 Uhr in Gatwick eintreffen werde. Es sei verabredet, daß sie ihn dort mit dem Wagen abhole. Um zwei Uhr schon? Wenn es unbedingt so früh sein müsse, lasse es sich vermutlich schaffen, vorausgesetzt natürlich, das Flugzeug komme wirklich pünktlich an. Aber vielleicht sei halb drei doch besser oder drei – um ganz sicher zu sein. Bei ihnen zu Hause? Ja gut.
»Können Sie mir übrigens sagen, Mrs Richards, wo sich Ihr Schwager im Moment aufhält?«
»Conrad? Nein, keine Ahnung. Ich weiß nur, daß er geschäftlich unterwegs ist, aber er hat mir nicht gesagt, wohin er gefahren ist.«
»Ach so.«
Celia schien viel daran gelegen, sich kooperativ zu zeigen. »Ich kann ihm gerne etwas ausrichten, wenn er zurückkommt.«
»Nein …« sagte Morse, als überlege er noch, »das ist, glaube ich, nicht nötig. Vielen Dank. Ich wollte nur … Nein, so wichtig ist es wirklich nicht.«
Bei seinen letzten Worten war Lewis ins Zimmer getreten. Morse legte den Hörer auf und sah ihn mit einem triumphierenden Grinsen an.
»Noch zwei Tage, Lewis! Am Montag ist das große Showdown. Um drei Uhr. Ich bin schon sehr gespannt. Sie auch?«
Lewis blickte merkwürdig desinteressiert, so als sei er in Gedanken mit etwas anderem beschäftigt; mit etwas, das ihn beunruhigte.
»He Lewis, ich habe Sie gefragt, ob Sie nicht auch gespannt sind.«
Lewis sah ihn bedrückt an. »Ich fürchte, ich habe eine unangenehme Nachricht für Sie, Sir.«
Morse sah ihn mit zusammengezogenen Brauen an. »Na los, raus damit!«
»Es war natürlich total gegen die Vorschriften, und normalerweise geben sie samstags überhaupt keine Auskunft …«
»Aber sie haben es Ihnen trotzdem gesagt?«
Lewis nickte. »Ja, aber es wird Ihnen nicht gefallen; es stößt Ihre ganze Theorie um. Der Junge von Anne Scott ist von einem Ehepaar in Nord-London adoptiert worden. Einem Mr und einer Mrs Hawkins. Sie haben ihn Joseph genannt, und – tja, er ist gestorben, als er noch ganz klein war. Er war erst drei. Hirnhautentzündung.«
Morse blickte völlig ausdruckslos, so als starre er in einen tiefen, dunklen Abgrund. »Und Sie sind sich ganz sicher, daß die Information stimmt?«
»Ja, ganz sicher. Ihre Vermutung, daß Michael Murdoch adoptiert worden ist, war übrigens richtig. Aber seine Eltern leben beide schon lange nicht mehr. Sie sind bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. In der Nähe von …«
Aber Morse hörte ihm schon nicht mehr zu. Wenn das stimmte, was Lewis da eben erzählt hatte …
»Heißt das, daß wir jetzt wieder ganz von vorn anfangen müssen?« fragte Lewis besorgt.
»Reden Sie keinen Blödsinn!« sagte Morse scharf.
»Werden Sie mich dann morgen brauchen, Sir?«
»Morgen ist Sonntag, Lewis. Und der Sonntag sollte der Ruhe vorbehalten sein. Ich hoffe, daß ich morgen endlich dazu komme, den Band mit den Archers-Episoden zu Ende zu lesen.«
Kapitel Fünfunddreißig
Sir – (Nomen, mask.)
Form der Anrede für einen Mann,
die Respekt (oder auch Mißbilligung) ausdrückt.
Chamber’s Twentieth-Century Dictionary
Kurz vor drei traf Morse mit dem Polizeiwagen in der Oxford Avenue ein. Vor der Nummer
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