Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)
Menschen ebenso in den Selbstmord wie die Möglichkeit öffentlicher Schande.«
»Oder finanzieller Ruin«, sagte Ignacio und wies auf den Raum mit dem Riss über der Jauchegrube. »Oder das Ende einer großen Karriere. Oder eine Anhäufung all dieser Probleme in einem Mann, der kurz vor der Rente stand und vielleicht Krankheit und den sicheren Tod vor Augen hatte.«
»Sind Sie überrascht, dass er sich umgebracht hat?«
»Ja, das bin ich. In jüngster Zeit hat er viel durchgemacht: der Prozess seines Sohnes, der Umzug, das Haus hier und seine zu Ende gehende Karriere. Doch er hat sich all dem gestellt. Er war ein widerstandsfähiger Mensch. Sonst hätte er die Schläge meines Vaters nicht ohne Verbitterung überlebt. Ich kann mir nicht vorstellen, was ihn zu einer derart drastischen Tat getrieben haben könnte.«
»Diese Frage fällt mir nicht leicht«, sagte Falcón, »aber hatten Sie irgendeinen Grund, an der sexuellen Orientierung Ihres Bruders zu zweifeln?«
»Nein«, gab Ignacio hart und tonlos zurück.
»Sie scheinen sich sehr sicher zu sein.«
»So sicher, wie man sich da nur sein kann«, sagte Ignacio. »Und vergessen Sie nicht, dass er ständig Fotografen im Nacken hatte. Die hätten der Welt liebend gerne berichtet, dass Pablo Ortega ein maricón war.«
»Aber hätte er es ertragen, wenn etwas Derartiges enthüllt worden wäre? Hätte das angesichts seiner anderen Probleme gereicht, ihn über den Rand des Abgrunds zu stoßen?«
»Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wie er es getan hat.«
Falcón berichtete ihm die grausamen Einzelheiten. Ignacio zitterte vor Entsetzen am ganzen Körper und vergrub sein Gesicht in den Händen, ohne die brennende Zigarette wegzulegen.
»Hat Pablo Ihnen je seine Kunstsammlung gezeigt?«, fragte Falcón, um ihn abzulenken.
»Er hat sie mir gezeigt, aber ich habe mich für diesen Kunstkram, um den er so ein Brimborium gemacht hat, nie groß interessiert.«
»Haben Sie dieses Werk je gesehen?«, fragte Falcón und zog das erotische indische Gemälde hinter der Falcón-Landschaft hervor.
»Uups!«, sagte Ignacio voller Bewunderung. »So viel Glück müsste man haben… Aber beweist Ihnen das nicht etwas, Inspector Jefe?«
»Es ist das einzige Bild, auf dem eine Frau dargestellt ist«, sagte Falcón und dachte, dass er den falschen Ansatz gewählt hatte. So würde das mit Ignacio Ortega nicht funktionieren.
»Auf dem Bild davor«, sagte Ignacio, »steht Ihr Name – Falcón.« In seinem Gesicht leuchtete etwas auf, und Falcón erkannte, dass er womöglich die ganze Befragung vermasselt hatte. Den Skandal um Francisco Falcón hatte wirklich niemand verpasst.
»Pablo hat mir davon erzählt«, sagte Ignacio. »Er kannte Francisco Falcón persönlich, der sich dann ja tatsächlich als Schwuler, als maricón , herausgestellt hat. Und Sie sind der Inspector Jefe, der, wenn ich mich recht erinnere, sein Sohn ist.«
»Nein, er war nicht mein Vater.«
»Jetzt verstehe ich. Deswegen halten Sie Pablo für einen maricón , stimmt’s? Weil Ihr Vater auch einer war. Sie glauben, dass Sie…«
»Er war nicht mein Vater, und ich glaube überhaupt nichts. Es ist eine Theorie.«
»Es ist Blödsinn. Als Nächstes erzählen Sie mir, dass Rafael auch einer war, die beiden eine ›Beziehung‹ hatten und er es nicht ertragen konnte…«
»Sind Sie nicht überrascht, dass Pablo Ihnen keinen Brief hinterlassen hat?«, unterbrach ihn Falcón in dem Bemühen, die Situation zu retten und Ignacio zu ärgern.
»Ich bin… doch, das bin ich.«
»Wann haben Sie zum letzten Mal mit ihm gesprochen?«
»Direkt vor meinem Urlaub«, sagte er. »Ich wollte wissen, ob es Fortschritte bei der Jauchegrube gab, weil mir jemand eingefallen war, der das Problem vielleicht anders angehen würde.«
»Als wir Sebastián den Brief seines Vaters gegeben haben, hat er ihn vom Tisch gewischt, als ob er nichts davon wissen wollte. Dann hatte er einen schweren Zusammenbruch und musste in seine Zelle zurückgebracht werden«, sagte Falcón. »Sie haben selbst gesagt, dass Sie wie ein Vater für ihn waren. Können Sie das erklären? Er scheint Pablo zu verachten, war aber gleichzeitig erschüttert über seinen Tod.«
»Ich kann Ihnen nicht mehr erzählen als das, was ich schon gesagt habe«, erwiderte Ignacio. »Ich weiß nur, dass Sebastián ein sehr komplizierter Junge war. Dass seine Mutter ihn verlassen hat, hat bestimmt nicht geholfen. Und wahrscheinlich war es auch nicht gut, dass sein Vater so
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