Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)
Möglichkeiten im Blick eines jungen Mannes, Verträumtheit im Gesicht einer Frau.
»Das war gefällig, diese frühen Fotos«, sagte Maddy. »Die Idee war bloß ein Gag. Ich war erst zweiundzwanzig. Ich wusste gar nichts. Schauen Sie sich die an…«
Sie gab ihm sechs Schwarzweißabzüge. Die ersten drei zeigten Rafael Vega in einem weißen Hemd und dunkler Hose, die Hände in den Taschen, auf seinem gepflegten Rasen stehend. Der Fokus lag auf seinem Profil. Sein Kiefer war angespannt. Falcón wartete darauf, dass ihm das Foto etwas sagte, und dann erkannte er es.
»Er ist barfuß.«
»Das war am 14. Januar dieses Jahres.«
»Was hat er gemacht?«
»Darum geht es, wie gesagt, nicht«, antwortete sie. »Ich bin kein Schnüffler. Schauen Sie sich die an. Die habe ich unten am Fluss gemacht. Dorthin gehe ich oft. Dort kann ich mit Teleobjektiv und Stativ arbeiten, und die Menschen bleiben auf der Calle del Bétis und auf den Brücken stehen. So erwische ich viele nachdenkliche Mienen. Die Leute gehen immer aus irgendeinem Grund an den Fluss… oder nicht?«
Die drei Fotos, die sie ihm zeigte, waren Nahaufnahmen von Gesicht und Schultern. Auf dem ersten verzog Vega seine Miene wie unter Schmerz, auf dem zweiten hatte er die Zähne zusammengebissen und die Augen zugekniffen, und auf dem dritten hatte er seinen verzerrten Mund geöffnet.
»Er leidet«, sagte Falcón.
»Er hat geweint«, sagte Maddy. »An den Mundwinkeln klebt Speichel.«
Er gab ihr die Fotos zurück. Er fand sie zudringlich und abstoßend. Er stellte das Buch wieder ins Regal.
»Und all das fanden Sie vorhin nicht erwähnenswert?«
»Das ist meine Arbeit«, sagte sie. »So drücke ich mich aus. Ich hätte sie Ihnen nicht gezeigt, wenn Marty mich nicht gedrängt hätte.«
»Selbst wenn es einen Bezug zu den Ereignissen hat, die sich gestern im Haus der Vegas abgespielt haben?«
»Ich habe Ihre Fragen beantwortet – wie die Vegas sich verstanden haben, ob er eine Affäre hatte. Ich habe sie bloß nicht auf eine dieser Aufnahmen bezogen, weil es eben gerade darum geht, dass wir nie von diesen Momenten wissen sollten. Die Fotos sind nicht zu Ermittlungszwecken gemacht worden.«
»Warum dann?«
»Dies sind Aufnahmen von Menschen, die in zutiefst privaten Augenblicken, aber in aller Öffentlichkeit leiden. Sie haben beschlossen, sich nicht in ihren Häusern zu verstecken, sondern ihr Leiden in der Gegenwart anderer Menschen aus sich herauszulaufen.«
Falcón erinnerte sich an die zahllosen Stunden, die er in den vergangenen Monaten durch die Straßen von Sevilla gelaufen war. Das Nachdenken über die Grundlagen seiner Existenz war so beunruhigend gewesen, dass es selbst die Grenzen seines weitläufigen Hauses in der Calle Bailén gesprengt hatte. Er hatte es aus sich herausgelaufen, es in die schwarzen Fluten des Guadalquivir gestarrt und zu den leeren Zuckertütchen und Zigarettenstummeln auf den Fußböden anonymer Kneipen geschüttet. Es stimmte. Als sich das Grauen in seinem Kopf aufgetürmt hatte, hatte er nicht zu Hause gesessen, sondern in der wortlosen Gesellschaft von Fremden Trost gesucht.
Maddy stand dicht neben ihm. Er nahm ihren Geruch wahr, ihren Körper unter der dünnen seidenen Hülle, den köstlichen Drang, den schmalen Grat. Sie schwebte erwartungsvoll und sich ihrer Wirkung bewusst neben ihm, und ihr weißer Hals bebte, als sie schluckte.
»Wir sollten zurück nach unten gehen«, sagte Falcón.
»Ich wollte Ihnen noch etwas zeigen«, sagte sie und führte ihn durch den Flur zu einem anderen Zimmer mit einem gekachelten Fußboden und weiteren Fotos an der Wand.
Ein Farbfoto von einem blauen Swimmingpool mit weißem Fliesenkranz inmitten eines grünen Rasens erregte seine Aufmerksamkeit. In einer Ecke wucherten violette Bougainvilleen, in der anderen stand ein weißer Liegestuhl mit Kissen, auf dem eine Frau in einem schwarzen Badeanzug und einem roten Hut saß.
»Das ist Consuelo Jiménez«, sagte er.
»Ich wusste nicht, dass Sie sie kennen«, sagte Maddy.
Er trat ans Fenster, von dem aus man in Consuelos Garten gegenüber sehen konnte.
»Für diese Perspektive musste ich aufs Dach steigen«, sagte sie.
Links sah er das Tor der Vegas und die Einfahrt zwischen den Bäumen.
»Wissen Sie, wann Señor Vega gestern Abend nach Hause gekommen ist?«
»Nein, aber er kam selten vor Mitternacht.«
»Sie wollten mir etwas zeigen?«, sagte er und wandte sich wieder dem Raum zu.
An der Rückwand hinter der Tür hing, schwarz
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