Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)
gefolgt.«
»Irgendeine Ahnung, wer?«, fragte Ramírez, während Ferrera die Verkehrspolizei anrief.
»Keine Ahnung, aber es hat sie offenbar nicht weiter gekümmert, dass ich das Nummernschild gesehen habe.«
»Die Nummernschilder stammen von einem VW Golf und wurden in Marbella als gestohlen gemeldet«, berichtete Ferrera wenig später. »Sonst haben sie nichts.«
Falcón und Ferrera nahmen die Tatortfotos von Felipe und Jorge und gingen hinunter zum Wagen. Cristina Ferrera kleidete sich immer höchst unauffällig, trug nie Make-up und als einziges Schmuckstück ein Kruzifix an einer Kette. Ihr Gesicht war breit und flach mit einer Nase, die das Durcheinander aus Sommersprossen nur wenig ordnete. Ihre wachsamen braunen Augen bewegten sich stets langsam. Sie hinterließ keinerlei physischen Eindruck und hatte doch eine starke Präsenz, was Falcón schon bei ihrem Bewerbungsgespräch beeindruckt hatte. Ramírez hatte sie allein wegen ihrer Fotos aussortiert, aber Falcóns Neugier war geweckt. Warum wollte eine ehemalige Nonne bei der Mordkommission arbeiten? Ihre vorbereitete Antwort lautete, dass sie Mitglied einer Gruppe sein wollte, die auf der Seite des Guten gegen das Böse kämpfte. Ramírez hatte sie gewarnt, dass eine Mordermittlung nichts Theologisches an sich hätte, dass Mord immer unlogisch war – Ergebnis von einem Zusammenbruch oder Kurzschluss in der Gesellschaft – und nichts mit himmlischen Streitwagen und Gefechten zu tun hatte.
»Der Inspector Jefe hat mich, eine ehemalige angehende Nonne, nach meinen Gründen gefragt«, hatte sie kühl erwidert. »Ich hatte den naiven Glauben, dass die Polizei nach der Kirche die zweitbeste Institution wäre, um Gutes zu tun. Meine zehn Jahre auf den Straßen von Cádiz haben mich gelehrt, dass das nur in sehr seltenen Fällen möglich ist.«
Danach hätte Falcón ihr den Job auf der Stelle gegeben, aber Ramírez war noch nicht fertig.
»Und warum haben Sie Ihre vocation aufgegeben?«
»Ich habe einen Mann getroffen, Inspector. Ich bin schwanger geworden, wir haben geheiratet und zwei Kinder bekommen.«
»In dieser Reihenfolge?«, hatte Ramírez gefragt, und Ferrera hatte genickt, ohne ihre braunen Augen von ihm zu wenden.
Noch ein gefallener Engel, eine Braut Christi, die sich in den Schuhen gewöhnlicher Sterblicher wiedergefunden hatte. Falcón hatte seine Entscheidung getroffen. Die Versetzung von Cádiz hatte lange gedauert, aber schon nach ihren ersten Tagen bei seiner Truppe war er überzeugt, die richtige Wahl getroffen zu haben. Sogar Ramírez hatte sie auf einen Kaffee eingeladen. In Anbetracht der Krankheit seiner Tochter hatte Ramírez wohl nach spiritueller Unterstützung gesucht und nicht die körperlichere Variante, nach der er für gewöhnlich bei den Gerichtssekretärinnen, Kneipenflirts, Verkäuferinnen und, wie Falcón vermutete, auch den Nutten Ausschau hielt, die seinen Weg kreuzten.
Ferrera saß am Steuer, weil Falcón sich ziellos seinen Gedanken überlassen wollte – oft brachte ihn das auf Ideen. Sie fuhren schweigend nach Santa Clara. Falcón mochte Ferrera auch, weil ihr das andalusische Gen ununterbrochenen Plapperns zu fehlen schien. Seine Gedanken bewegten sich in einem trägen, ungesunden Kreis. Er dachte daran, wie sich Männer durch eine Krise veränderten. Ramírez war in die Kirche gegangen. Falcón hatte diese Möglichkeit nie gereizt, weil er sich wie ein Betrüger gefühlt hätte. Er selbst war wie Señor Vega an den Fluss gegangen, obwohl dessen Wirkung zugegebenermaßen nicht immer positiv war. Es hatte Zeiten gegeben, in denen das dahinströmende Wasser ihm eine Alternative angeboten hatte, vor der er nach Hause zu seinem Trost spendenden Whisky hatte fliehen müssen.
Sie hielten vor dem Haus der Vegas, und Falcón öffnete das Tor zur Einfahrt mit der Fernbedienung. Die Klimaanlage im Haus lief immer noch. Er führte Ferrera zu den beiden Tatorten, durch das übrige Haus und in den Garten mit Sergejs Unterkunft. Dabei zeichnete er ein knappes Profil der beiden Opfer. Dann kehrten sie ins Haus zurück und gingen die Polizeifotos durch. Falcón berichtete ihr, was er von der Vorgeschichte wusste, ohne sich auf Mord oder Selbstmord festzulegen. Er wollte, dass Ferrera den Tatort aus dem Blickwinkel einer Frau betrachtete, sich in Lucía Vegas Kopf hineinversetzte, ihre Habe musterte und dann ihre Handlungen nachvollzog.
Er ging in Vegas Büro und setzte sich unter das Stierkampfplakat an den Schreibtisch. Der
Weitere Kostenlose Bücher