Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)
wenn er wüsste, dass ich ein Kriegsverbrecher bin«, sagte Falcón. »Der Unterschied zwischen dem Kriegsverbrecher und dem Mörder besteht in der Möglichkeit zur Selbsterkenntnis. Wenn die Geschichte weitergegangen ist, kann ein Kriegsverbrecher begreifen, dass er von einer Mischung aus politischen Idealen, nationalem Eifer und Angst verleitet worden ist, sich von einem gewöhnlichen Menschen in einen pflichteifrigen, selbstgerechten und gnadenlosen Mörder zu verwandeln. Zu einem späteren Zeitpunkt seines Lebens könnte er, vor allem wenn man ihn aufgespürt hat, darüber nachdenken und tiefe Scham empfinden. Ich könnte mir nicht vorstellen, meinem Sohn in die Augen zu sehen, wenn er weiß, dass ich zu solcher Grausamkeit fähig war.«
Der Staatsanwalt rauchte schweigend. »Wir tun etwas, was zwei Vertreter des Gesetzes nie tun sollten«, sagte er schließlich.
»Zurück zu dem Fall«, sagte Falcón. »In einem von Vegas Gefrierschränken haben wir einen falschen argentinischen Pass auf den Namen Emilio Cruz gefunden. Den überprüfen wir genauso wie Vegas Ausweis.«
Calderón nickte, drückte seine Zigarette aus und zündete sich sofort eine neue an.
»Vázquez hat gesagt, Vegas Eltern wären ›getötet‹ worden, was sich so anhört, als wären sie keines natürlichen Todes gestorben«, fuhr Falcón fort. »Wer waren sie? Was ist mit ihnen passiert? Das könnte interessant sein.«
»Als Hintergrundinformation, ja«, sagte Calderón.
»Und dann ist da noch etwas, was nicht in dem Bericht steht. Ich habe in Vegas Arbeitszimmer eine Akte mit dem Namen Justicia gefunden. Sie enthielt Artikel und Computerausdrucke über Institutionen wie den Internationalen Strafgerichtshof…«
»Da haben Sie Ihre Kriegsverbrechen, Javier.«
»…über Baltasar Garzón und das belgische Rechtssystem«, beendete Falcón seinen Satz. »Für einen Bauunternehmer sind sie ziemlich speziell, selbst wenn er sich für die aktuelle Politik interessiert. Wenn man dazu noch den falschen Pass und die seltsame Botschaft betrachtet, die er in der Hand hielt, könnte es sein, dass wir es mit einem Mann zu tun haben, der über sensible Informationen verfügte, die anderen schaden könnten.«
»Sowohl die Krugmans als auch Ortega haben in ihren Befragungen anti-amerikanische Ressentiments erwähnt«, sagte Calderón.
»So habe ich das nicht verstanden. Ich glaube, Vegas Zorn richtete sich eher gegen die amerikanische Regierung. Marty Krugman hat sogar gesagt, dass er eher pro-amerikanisch eingestellt war.«
»Wie auch immer, ich habe es nur erwähnt, weil die US-Regierung gegen den Internationalen Strafgerichtshof ist, was eine direkte Folge der weltpolitischen Lage nach dem 11.September ist, und es gibt die von Ihnen erwähnte seltsame Botschaft Vegas.«
»Darüber habe ich gestern einen Artikel in El País gelesen, habe aber die Zusammenhänge nicht ganz verstanden.«
»Der offizielle und menschenfreundliche Grund ist, dass die US-Regierung nicht will, dass einem ihrer Bürger ein ungerechtes Verfahren droht«, sagte Calderón. »Der pikantere Grund ist, dass die Welt nach dem 11. September mehr Polizeiaufsicht braucht, und die momentane Weltpolizei ist nun mal das US-Militär. Die Amerikaner wollen sich das Recht vorbehalten, zu bestimmen, was gerecht ist. Außerdem wollen sie nicht, dass irgendein Mitglied der Regierung wegen Kriegsverbrechen angeklagt wird. Sie sind die mächtigste Nation der Erde und üben, wo sie können, Einfluss aus. Es gibt jede Menge Leute, denen ihre Taktik – ›Wenn ihr uns nicht unterstützt, kürzen wir die Militärhilfe‹ – nicht gefällt. Aber die Welt ist komplex. So wie jemand für den einen ein Freiheitskämpfer und für den anderen ein Terrorist sein kann, so kann auch das gerechte militärische Ziel des einen für den anderen ein grausames Kriegsverbrechen sein.«
»Meinen Sie dann nicht, dass es interessant wäre herauszufinden, warum Vega sich überhaupt für den Internationalen Strafgerichtshof und andere Rechtssysteme interessierte?«
»Ich weiß nicht, was er erwartet oder befürchtet hat, zumal der Internationale Gerichtshof seine Arbeit erst am 1. Juli dieses Jahres aufgenommen hat und keine Verbrechen ahnden kann, die vor diesem Datum begangen wurden. Das belgische Rechtssystem und Baltasar Garzón bedeuten nur, dass man Europa meiden sollte, wenn man sich Sorgen macht, angeklagt oder verhaftet zu werden. Also engen Sie Ihren Blick nicht zu sehr ein, Javier«, sagte Calderón.
Weitere Kostenlose Bücher