Die Toten von Santa Lucia
seit Monaten hier. Sie mag junge Leute …«
»… als sie jung war, ist sie selbst viel gereist. Sie spricht mindestens acht Sprachen …«
Sonja klappte das Buch zu. Sie hatte weder eine Luzia noch Luzies Handschrift entdeckt.
»Wie sieht Ihre Tochter denn aus?«, fragte Tuula hilfsbereit. »Vielleicht haben wir sie irgendwo getroffen.«
»Habt ihr in Neapel einen Sprachkurs besucht?«
Die Mädchen schüttelten den Kopf. »Nein, in Perugia.«
Sonja zeigte ihnen das Foto. Seit heute Mittag trug sie es in einem Bauchgürtel direkt am Körper.
»Und warum suchen Sie nach ihr?« Die vier Augen, die sich auf Sonja richteten, waren leuchtend blau und durchsichtig, wie klares Wasser, in dem Fische schwimmen und in dem man bis auf den Grund blicken kann. Sonja sagte, Luzie suche in Neapel nach ihrem Vater, den sie nicht kannte.
»Und Sie wollen ihr dabei helfen?«
Nein, dachte Sonja spontan. Das war es nicht, was sie wollte. Aber Tuula sah sie auf eine Weise an, als suche sie ihrerseits nach Meeresgetier in Sonjas Augen, und ein wenig versöhnlicher dachte Sonja, na ja, warum eigentlich nicht. Ja, nein, eigentlich – was wollte sie eigentlich? Mit Luzie reden, und dann? Sie davon abbringen, Antonio zu suchen?
Sonja nickte, so überzeugend sie konnte. Sie hatte gar keine andere Wahl, denn selbstverständlich wurde ein Ja erwartet. Jedes Nein hätte weitere Fragen nach sich gezogen und Misstrauen geweckt. Wie hörte sich das denn an: Eine Frau suchte nach ihrer Tochter, die nach ihrem Vater suchte, aber in Wirklichkeit wollte die Frau ihrer Tochter gar nicht bei der Suche helfen, erwartete aber, dass andere ihr bei der Suche nach der Tochter, die ihren Vater suchte, halfen, obwohl diese anderen wussten, dass die Mutter die Tochter in Wirklichkeit lieber von der Suche abbringen wollte …?
»Klar.« Sie lächelte ihr strahlendstes Lächeln und hinterließ auch hier die Telefonnummer ihrer Pension. Tuula und Anna sahen sich das Foto noch einmal aufmerksam an und versprachen, sich zu melden, falls Luzie ihnen zufällig irgendwo über den Weg lief.
12
Eine halbe Stunde vor der verabredeten Zeit saß Sonja im 1799 , vor sich einen roten Martini mit Eis. Viel Eis. Sie brauchte einen Schutz gegen die Vorstellung, von allen vier Seiten angreifbar und verwundbar zu sein und hatte daher einen Tisch direkt neben dem Eingang gewählt, unter einer mächtigen, längst verblühten Glyzinie, deren Triebe an der Hausfassade emporrankten. Von dort hatte sie alles im Blick. Die Cafés waren höchstens zu einem Viertel besetzt. Mitten auf der Piazza stand ein Bellini-Denkmal, daneben lag ein kleines Areal mit antiken Mauerresten aus der Zeit der griechischen Besiedlung von Neapolis, deutlich unterhalb des heutigen Straßenniveaus gelegen, Auffangbecken für Zigarettenschachteln und Blechdosen.
Man müsse in Neapel Zeit haben, hatte der alte Portugiesischlehrer gesagt. Sonja war erst einen Tag hier, aber es kam ihr vor wie eine ganze Woche. Vielleicht herrschte in Neapel ein anderer Zeitbegriff, Tage wurden Wochen, Wochen Monate. Sie fragte sich auch, ob Luzie wohl schon hier gewesen war, auf dieser Piazza, in diesem Café? Vielleicht hatte sie just vor zehn Minuten das Café gleich nebenan verlassen. Der Gedanke, sie könnten sich in einem fort verpassen, irritierte Sonja an diesem Tag zum wiederholten Male: in der Touristeninformation, beim steinernen Nilgott an der Piazzetta Nilo, in der Gasse mit den Weihnachtskrippen, in einem CD-Laden, vor einer Konditorei mit Tabletts voller Minitörtchen, vor dem Schaufenster von Max Mara.
Ein Mann bog um die Ecke, steuerte auf das Café zu, sah sich suchend um, und im ersten Augenblick dachte Sonja erleichtert, es sei Gentilini, der den Kreisverkehr ihrer Gedanken mit einem Lied zum Stillstand bringen konnte. Sie lächelte ihm entgegen – eindeutiger Fehler, denn prompt steuerte der Unbekannte an all den anderen leeren Tischen vorbei auf sie zu und fragte, ob bei ihr noch ein Plätzchen frei sei … Ihr Nein ließ keinen Raum für Missverständnisse. Der Mann entschuldigte sich mit einem gespielt unterwürfigen, spöttischen Lächeln, drehte ab und versuchte sein Glück woanders. Irgendwann würde er sicherlich fündig werden und auf eine Touristin treffen, die genau das Gleiche suchte wie er: eine Romanze für eine Nacht.
Komm bloß runter von deinem hohen Ross, schalt Sonja sich. Was war denn damals in Venedig so anders gewesen? Eine Romanze für eine Nacht, nicht mehr und nicht
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