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Die Toten von Santa Lucia

Die Toten von Santa Lucia

Titel: Die Toten von Santa Lucia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Krohn
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vielleicht auf die Wasserspuren auf der Aluminiumtheke. Dann sagte er unvermittelt: »Ich habe auch eine Tochter. Und einen Sohn.«
    »Wie alt sind sie?«, fragte Sonja, die in ähnlicher Pose neben ihm stand, Schulter an Schulter, jetzt ihrerseits mit trübem Blick und auf einen anderen Fleck starrend, der eher aus ihrer Erinnerung stammte, aber zunehmend matter wurde und mit der Gegenwart verschwamm. Aha, der Commissario besaß also doch ein Privatleben – glücklich verheiratet, zwei Kinder, anstrengender Beruf und ab und zu ein neapolitanisches Lied auf den Lippen … und siegesgewisse Sprüche … und den Geschmack von Grappa in der Kehle …
    »Vierzehn und sechzehn«, sagte Gentilini. »Sie leben bei ihrer Mutter«, setzte er mit bleischwerer Zunge hinzu. Er kippte den nächsten Grappa runter. »Aber ich seh die Kinder alle vierzehn Tage am Wochenende. Wenn sie Lust haben. Und wenn nichts dazwischenkommt.« Er setzte das Glas hart auf die Theke. »So was wie ein kleiner Mord. Oder ein größerer Mord. Sondereinsatz, auch mitten in der Nacht. Dieses Wochenende wär’s wieder so weit. Wenn nichts dazwischenkommt. Sie lieben es rauszufahren, auf die Inseln, ein Boot zu mieten.« Er hob den Zeigefinger. »Nein, stimmt nicht. Man muss immer ehrlich sein. Eigentlich bin ich es, der rausfahren will. Giorgio kommt gerne mit, aber Isabella nicht. Isabella ist lieber mit ihrer Clique unterwegs. Nicht mit ihrem alten Vater und ihrem kleinen Bruder. Väterwochenenden stehen zur Zeit bei ihr nicht hoch im Kurs. Was soll ich machen? Den Beliebtheitsgrad steigern und ihr ihre Freiheit lassen. Rosaria flippt aus, wenn sie das hört. Aber was bleibt mir für eine Wahl?« Er breitete resigniert die Arme aus. »Es ist verdammt schwer, es den Frauen recht zu machen.«
    Sonja stimmte ihm insgeheim zu, aber das behielt sie für sich. »Wie lange lebt ihr schon getrennt?«
    »Eine halbe Ewigkeit. Seit Giorgio damals … im Dezember sechs Jahre. Meine Frau – meine Exfrau – hat wieder geheiratet. Einen Banker. Der ist abends vermutlich auch nicht öfter zu Hause als ich damals. Aber er läuft nicht mit der Pistole durch die Gegend und ist in keinen verlorenen Krieg gegen die Camorra verwickelt.« Er stieß einen Pfiff durch die Zähne aus und zeigte mit dem Daumen auf die beiden leeren Gläser, die prompt nachgefüllt wurden.
    »Und du?«, fragte Sonja.
    »Was, ich?«
    »Hast du auch wieder geheiratet?«
    »Seh ich so aus?«
    »Ich weiß nicht, wie du aussiehst.«
    »Wieso, ich steh doch vor dir.«
    »Neben mir.«
    »Dann eben neben dir.« Er grinste. »Aber nicht bloß neben dir. Ich steh auch irgendwie neben mir.«
    Sie brachen in schallendes Gelächter aus.
    »Ich lebe auch allein«, sagte Sonja. Sie schwankte. »Das heißt, natürlich mit Luzie. Aber sie zieht bald aus. Wenn wir wieder in Hamburg sind … Wenn wir jemals wieder …« Sie brach in Tränen aus. Sie konnte nicht anders. Es waren die Worte – die Worte hatten sie verschleppt und den schützenden Mantel des Alkohols von ihr gezerrt. Sie musste sich am Tresen festhalten. Gentilinis Arm legte sich fest um sie.
    »Wir finden Luzie. Und wenn wieder ein Wochenende dabei draufgeht. Versprochen.«

20
    Nächte, deren Träume sich vor dem Erwachen verflüchtigten, waren wie eine Reise durch eine Grauzone, in der jeder Schritt, jedes Bild, jede noch so phantastische Vision sofort vom Nebel des Vergessens verschluckt wurden. Man durchquerte ein Stückchen Lebenszeit, aber bewusstlos, gewissenlos, ohne verstrickte und verknotete Gedanken und Gefühle, die sonst beim Aufwachen oft noch im Nacken oder in der Magengrube saßen und sich nicht immer unter der Dusche abschütteln ließen. Träume konnten hartnäckige Begleiter des Alltags sein, sie hockten in den Gliedern, ließen einen nicht los. Wie erholsam war dagegen eine vermeintlich traumlose Nacht. Eine Spanne Einsamkeit, eine Spanne Gedankenfreiheit, die Erinnerung reingewaschen wie der Himmel nach einem Gewitter.
    In Neapel hatte es nicht gewittert, aber Sonja hatte beim Aufwachen trotzdem kurzfristig Schwierigkeiten mit der Erinnerung. Es dauerte ein paar Atemzüge, bis sie wieder wusste, wo sie war. Allerdings hatte sie keinen blassen Schimmer, wie sie nachts in die Pension und in ihr Bett zurückgefunden hatte. Der letzte Erinnerungsstreifen zeigte die Bar, in der sie mit Gennaro Gentilini etliche Grappa getrunken hatte – nach dem Pochen in ihrem Kopf zu urteilen, mehr als nur etliche, eher ein ganzes Dutzend.

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