Die Toten von Santa Lucia
Alles andere war im Dunkel der Nacht zurückgeblieben.
Das Pochen in ihrem Kopf war lästig. Wenn sie noch ein wenig weiterschlief, gab es vielleicht die Chance, den Tag ohne Schädelbrummen zu beginnen. Sie schloss die Augen, bereit, wieder in den Halbschlaf zu sinken. Aber draußen lärmte der Alltag. Eine Autosirene heulte los, nervtötend. Das Pochen wurde lauter. Sie schrak hoch. Das Pochen wummerte gar nicht in ihrem Kopf, sondern dahinter. Mit einem Schlag war sie hellwach. Jemand klopfte energisch an ihre Zimmertür.
»Signora!!!«
Die Stimme der Zimmervermieterin. Porcamiseria, konnte diese Nervensäge sie nicht in Ruhe schlafen lassen?
»Sono le dieci e venti!«
Zwanzig nach zehn? Ja und?
»Bisogna lasciare la stanza alle dieci!«
Wie? Was? Ach so. Sie hatte ja am Tag zuvor angekündigt, dass sie nur noch eine Nacht bleiben würde.
Das Pochen wurde vehementer. Als stünde draußen die Polizei und wollte sich notfalls gewaltsam Zutritt verschaffen.
»Signoooorrrraaa! C’è un uomo che aspetta!«
Ein Mann? Mit einem Satz war Sonja aus dem Bett. Sogleich meldete sich ihr Schädelbrummen so heftig, als wäre sie mit dem Kopf gegen eine unsichtbare Decke gestoßen.
»Ich komme!«, rief sie. »Vengo subito! Einen Augenblick! Chi è?«
»Un uomo«, schrie Signora Russo erneut gegen die verschlossene Tür. »Questo Gentilini. Ma chi è chillo?!« Sie schien in Fahrt zu sein, denn sie zeterte weiter, es sei nach zehn und überhaupt, Männerbesuch in der Pension und diese ständigen Anrufe, basta! – sie sei kein Auskunftsbüro und kein lebender Anrufbeantworter und kein Unterschlupf für zweifelhafte Objekte. Das sagte sie wortwörtlich: Zweifelhafte Objekte. Als wäre damit der Zenit ihrer Empörung überschritten, wurde ihr Schimpfen danach leiser – offenbar war sie auf dem Rückweg in den vorderen Teil der Pension, um darüber zu wachen, dass das zweifelhafte Objekt nicht womöglich etwas mitgehen ließ.
Sonja kramte in ihrer Kulturtasche nach Aspirin und fand schließlich eine unansehnlich gewordene Kopfschmerztablette, die von einer ihrer letzten Reisen stammen musste und den Charme eines Bonbons besaß, den ein Junge wochenlang in der Hosentasche mit sich herumgetragen hatte. Egal, runter damit, auf die inneren Werte kam es an. Sie schüttete sich Wasser ins Gesicht, hielt dann die Handgelenke unter den kalten Wasserstrahl, auch die Füße, Kneippen auf Neapolitanisch. Sie kramte ihr hellgelbes Leinenkleid aus dem Koffer und dankte der Vorsehung, dass sie ihn gar nicht erst ausgepackt hatte. Das beschleunigte den Abschied.
Im Telefonzimmer stand, mit dem Rücken zur Tür, tatsächlich Gentilini und wartete auf sie. Waren sie etwa verabredet gewesen, und sie hatte es vergessen? War in der Nacht irgendetwas passiert, woran sie sich dringend erinnern müsste? Irritiert blieb sie stehen, stellte den Koffer ab.
»Buon giorno, Gennaro.«
Er drehte sich um, sein Gesicht strahlte sie an, aber seine Augen blieben ernst. »Ben dormito?«
»Hatten wir eine Verabredung? Ich kann mich nicht …«
Bevor Gentilini antworten konnte, preschte Signora Russo, heute in einem hellvioletten Jogginganzug, seitlich an Sonja vorbei. Ihr Blick fiel auf Sonjas Koffer.
»Ich sehe, Sie haben schon gepackt. Eigentlich hätten Sie das Zimmer schon um zehn verlassen müssen, Signora, das ist hierzulande so üblich, aber ich mache eine Ausnahme«, fügte sie hinzu, als hätte sie soeben einen Schwerverbrecher begnadigt. Mit hochmütiger Miene händigte sie Sonja einen handgeschriebenen Zettel aus. »Die Rechnung.«
Sonja warf kurz einen Blick darauf, zog dann ungläubig die Augenbrauen hoch. »Dreihundert Euro? Für drei Nächte? In dieser Rumpelkammer?«, entfuhr es ihr ungläubig.
»Sie hatten immerhin eine ganze Woche gebucht«, gab die Zimmervermieterin patzig zurück. »Ich habe Ihnen zwei Nächte erlassen, man ist ja kein Unmensch.«
»Darf ich mal sehen?«, mischte Gentilini sich ein, warf einen Blick auf den Zettel und wedelte damit herum. »Soll das eine Rechnung sein?«
Signora Russo warf den Kopf in den Nacken. »Das geht Sie gar nichts an.«
»Sie haben doch sicherlich nichts dagegen, wenn ich mir das komfortable Zimmer der Signora einmal ansehe«, versetzte Gentilini mit freundlicher, aber eiskalter Stimme, der man nicht widersprach und die Sonja an ihm noch nie gehört hatte. »Sechzig Euro pro Nacht ist ja in der heutigen Zeit wirklich günstig, geradezu ein Spottpreis …«
»Bittesehr.« Patzig
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