Die Toten von Santa Lucia
Schule und auf den Fußballplatz, mehr hat mich nicht interessiert.«
»Und Mädchen?«, fragte einer der Zwillinge, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.
Vittorio lachte. »Ja, Mädchen auch.«
Pino und Lucio stießen sich in die Seite und kicherten.
»Aber ich habe seine Freunde immer bewundert«, fuhr Vittorio fort. »In meinen Augen waren sie alle so – cool, würde man heute sagen. Auf dem Foto fehlt nur Pepe, er war offenbar in Venedig nicht mit dabei. Mit Franco und Sergio ist Antonio schon zusammen aufs Liceo gegangen, sie waren zu dritt eine Zeit lang in Indien unterwegs. Gianluca und Pepe sind erst an der Uni dazugestoßen, glaube ich. So genau weiß ich das nicht mehr. Sie haben zusammen in diversen WGs gewohnt.«
»Hatte er … eine Freundin?«, fragte Sonja und spürte, wie ihr Gesicht rot anlief. Die Frage war ihr peinlich, aber um manche Fragen kam man einfach nicht herum, Peinlichkeit hin, Eitelkeit her. Jetzt, da sie in Antonios Vorleben eingetaucht war, wollte sie auch weitertauchen, notfalls bis hinunter zum Grund. Sie dachte an die Frau damals am Telefon. »Ich meine, war er zu dem Zeitpunkt fest liiert?«
Vittorio zündete sich eine weitere Zigarette an.
»Rauchen ist ungesund«, nölte einer der Söhne aus dem Hintergrund.
Er ignorierte es. »Soll ich die Wahrheit sagen?«
Sonja biss sich auf die Lippen und nickte.
»Die Wahrheit ist«, Vittorio blies den Rauch aus: »Ich hab keine Ahnung. Sicher hatte Antonio Frauen und Affären, aber er hat nie eine feste Freundin zu uns mitgebracht, wenn du das meinst. Da war auch gar kein Platz. Das waren andere Zeiten. Wir haben jeder unser eigenes Leben gelebt. Ich so wenig wie möglich im Container und so oft wie möglich auf dem grünen Rasen im Stadion, er in seinen WGs und in den gefahrvollen Abgründen der Großstadt und der Camorra. Aber wie ich meinen Bruder kannte, hätte er seine Tochter, glaube ich, nie im Stich gelassen.« Sein Blick war offen und mitfühlend. »Da bin ich mir hundertprozentig sicher.«
Er klappte das Fotoalbum zu. »Du kannst es dir gern ansehen, so oft du willst. Aber jetzt sag mir lieber, was du wegen Luzie unternehmen willst. Wo willst du nach ihr suchen?«
»Nach wem?«, krähten die Jungs, die ein Geheimnis witterten, beinahe unisono.
»Nach einem Mädchen namens Luzia«, erklärte Vittorio geduldig. »Sie ist ungefähr zwanzig und steckt irgendwo in Neapel. Zeig ihnen das Foto, Sonja. Kinder in dem Alter haben ihre Augen überall.«
Pino und Lucio rissen sich das Foto beinahe aus der Hand. »Die sieht ja aus wie Onkel Antonio«, sagte einer der beiden. »Nein«, widersprach der andere, »die sieht aus wie du.« Er sah Sonja herausfordernd an.
Vittorio verdrehte die Augen. »Zwillinge. Bei zwei Geschwistern sind Mehrheitsentscheidungen ausgeschlossen … Egal, wem sie ähnlich sieht. Luzia ist ab heute eure Cousine, also, Jungs, haltet die Augen offen.« Dann wandte er sich wieder Sonja zu. »Wo könnte man in Neapel nach ihr suchen … Jugendherberge, kleine Pensionen, Capri, Procida … Irgendwo muss sie ja schließlich sein! Ich häng mich ans Telefon und ruf überall an …«
»Aber Papa, das Fußballtraining …«, quengelten die Zwillinge nun unisono.
»Also gut, nach dem Training ruf ich überall an. Und wie ist es mit Freunden von diesem Zanzara … »
»Zazzera«, sagte Sonja.
»… vielleicht ist Luzie dort irgendwo untergekrochen? Egal, wir kriegen das raus. Ein Freund von mir ist Fotograf, den ruf ich an …«
Er sprang auf und nahm ihre Hände. »Mach dir keine Sorgen, Sonja. Du hast jetzt hier eine Familie, du bist nicht mehr allein, wir sind alle für dich da. Va bene? Unter welcher Nummer kann ich dich erreichen, wenn ich was rausfinde? Hast du ein Handy? Nein???«
Er sah sie entgeistert an, ging zum Schreibtisch, riss eine der Schubladen auf und begann darin zu kramen. »Ecco. Ich hab mehrere davon. Prendi uno paghi niente … Geschenk des Hauses. Die Nummer ist … Moment …«
Er scheuchte die Zwillinge vom Computer weg, tippte etwas in die Tastatur, kritzelte dann ein paar Zahlen auf einen Notizzettel, gab ihn Sonja und strahlte sie an. »Deine neue Nummer. Benvenuta a Napoli!«
27
Als Sonja den Computerladen verließ und ganz automatisch die Sonnenbrille aufsetzte, bemerkte sie eine Veränderung der Lichtverhältnisse. Alles kam ihr ein paar Schattierungen dunkler vor. Sie nahm die Brille wieder ab. Zum ersten Mal, seit sie in Neapel war, strahlte der Himmel nicht mehr
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