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Die Toten von Santa Lucia

Die Toten von Santa Lucia

Titel: Die Toten von Santa Lucia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Krohn
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Internetanschluss hatte. Drei Zigaretten lang gab Vittorio übers Telefon Anweisungen, was zu tun und was zu unterlassen war. Sonja beobachtete ihn. Zwischendurch durchfuhr es sie schmerzlich, wenn ihr seine Art, den Kopf zur Seite zu legen, eine Geste mit der Hand oder eine bestimmte Modulation in der Stimme bekannt vorkamen. Aber das war vielleicht nichts als Einbildung. Antonios kleiner Bruder. Nicht mehr, nicht weniger.
    Offenbar war das Problem gelöst, Vittorio legte auf und sah Sonja einen Moment lang perplex an, als wisse er nicht mehr so genau, was sie in seinem Laden suchte.
    »Spielen Sie noch Fußball?«, fragte Sonja.
    Vittorio runzelte die Stirn, sichtlich von der Frage überrumpelt. Dann sog er erneut extra tief den Rauch ein und lächelte. »Stand das etwa auch in der Zeitung? Daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern …«
    »Ersatztorhüter …«
    »Sie werden lachen: Ja, ich spiele noch. Aber nur zum Vergnügen, als Jugendtrainer, im Verein, in dem meine Jungs spielen. Damals war Fußball eine Zeit lang meine große Leidenschaft, so wie für Tonino der Journalismus. Dann kamen die Computer auf den Markt und in mein Leben – und hier bin ich, ecco tutto.«
    »Wann haben Sie aufgehört zu spielen?«
    Er versuchte einen ironischen Blick, der jedoch misslang. »Vor zwanzig Jahren.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Mir war die Lust am Fußball vergangen. Das ist nicht zum Lachen, wenn der Bruder ermordet wird.«
    »Nein«, sagte Sonja.
    Sie sahen sich an. Ihre Blicke trafen sich, erkannten sich. Erkannten den Schmerz, der einem die Lust an allem nimmt, am Weinen, am Lachen, am Erinnern, am Fußballspielen. Nicht kurzfristig, aus Gründen der Kränkung, sondern weil die Lebenslust unter dem Schatten des Todes erkaltet, und es dauert, manchmal kürzer, manchmal länger, bis sie wieder erwärmt wird. Wenn überhaupt.
    Als der Moment vorbei war, holte Sonja tief Luft. »Antonio ist der Vater meiner Tochter.« Sie betonte jedes einzelne Wort.
    Vittorio starrte sie an. Seine Augen weiteten sich.
    »Sie heißt Luzia.«
    »Non è vero«, murmelte Vittorio Di Napoli, fummelte nervös eine neue Zigarette heraus, zündete sie hastig an, schleuderte die Packung in die Ecke. »Sie müssen sich irren …«
    »Luzie wird in zwei Wochen zwanzig. Ich bin in Venedig schwanger geworden. Antonio wusste es. Er hat mich danach einmal in Hamburg besucht, im Februar 1985. Hat er … hat er keinem aus der Familie etwas davon erzählt?«
    Antonios Bruder sah sie mit großen Augen an und schüttelte dann wie in Zeitlupe den Kopf.
    Bevor er Zeit hatte, die Frage zu formulieren, die aus seiner Sicht als nächste kommen musste – nämlich Sind Sie ganz sicher, dass Tonino der Vater ist … ? –, reichte Sonja ihm das Foto von Luzie.
    »Das ist sie.«
    Vittorio Di Napoli betrachtete es lange, seine Augen glänzten. »Managgia«, murmelte er vor sich hin und ballte die Faust, »managgialamadonna!«
    Der große Bruder erzählt dem kleinen Bruder auch nichts von seinen Liebschaften, dachte Sonja. Klar. Gar nichts. Niemand in dieser Familie wusste Bescheid.
    »Wieso kommst du erst jetzt?«, fragte Vittorio heiser. »Nach zwanzig Jahren?«
    »Ich … ich wusste nicht, wie er heißt«, sagte Sonja leise. »Vor allem aber wollte ich ihn vergessen.«
    Dann erzählte sie, was seit ihrer Ankunft in Neapel passiert war. Sie erzählte von Luzies Verschwinden, vom Inhalt des kleinen Koffers und vom Mord an Libero Zazzera. Von ihrer wachsenden Sorge. Alles. Fast alles. Den Abend mit Gentilini ließ sie aus.
    »Er hat dir eine Kopie nach Deutschland geschickt?«, wiederholte Vittorio, wie um sich zu vergewissern, dass er nicht träumte. »Der Brief war monatelang unterwegs … Und als er endlich ankam, hast du ihn nicht geöffnet …? Und jetzt reist Toninos Tochter mit dem Teufelszeug durch die Gegend …?«
    Er sprang auf. »Wir müssen sie finden! Sofort! Was sitzen wir hier noch …«
    »Ich dachte, sie wäre vielleicht bei ihren neuen Großeltern«, sagte Sonja.
    »Bei meiner Mutter?« Vittorio winkte ab. »Die hätte mich sofort angerufen. So etwas könnte sie nie und nimmer für sich behalten … Ich habe zwei Söhne, Zwillinge, richtige Rotzlöffel, die den ganzen Tag Fußball spielen, und meine Schwester hat ebenfalls einen Sohn, sie lebt in Florenz. Aber eine Enkelin … Madonna … Davon hat Mamma schon immer geträumt …« Er brach ab. »Kann es nicht sein, dass deine Tochter – eure Tochter schon längst wieder in Hamburg

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