Die Toten von Santa Lucia
azurblau, sondern war von einer hellen, dünnen Wolkenschicht umwickelt wie mit Mull, und am Horizont schoben sich bereits dunklere Wolkentürme heran. Jeder Schritt war eine Anstrengung.
Schweißgebadet zwängte Sonja sich zwanzig Minuten später durch die Ausgangssperre der Funicolare. Sie konnte der stickigen Luft, den unangenehmen Gerüchen, der unvermeidlichen Berührung mit anderen, ebenfalls schwitzenden Körpern gar nicht schnell genug entkommen. Sie hatte nie in ihrem Leben Platzangst gehabt, aber jetzt hatte sie eine vage Ahnung davon, was Leute durchmachten, die an Klaustrophobie litten. In der Ferne grollte ein erstes Donnern.
Draußen stand mit suchendem Blick Gentilini. Er entdeckte sie, griff nach ihrem Arm und zog sie an den Rand der Menschenmenge. Sonja verspürte den Impuls, sich fallen zu lassen und sich an ihn zu lehnen, aber undenkbar, das hätte nur erneuten Körperkontakt bedeutet. Er sah angespannt aus, abgekämpft. Immerhin versuchte er hinter der Schicht Alltagsstress ein Lächeln zustande zu bringen.
»Ciao, Gennaro«, sagte sie.
»Ciao, Sonia. Come stai?«
»Così. E tu?«
»Cosìcosì.«
»Was für ein herzerfrischender Dialog«, sagte Sonja, aber Gentilini nickte nur müde.
»Was herausgefunden?«
»Gehen wir lieber irgendwohin, wo es ruhiger ist.«
Es war inzwischen kurz vor fünf, die Via Roma hatte sich wieder mit Jugendlichen, Müttern mit Kinderkarren, Schaufensterflaneuren aller Art gefüllt, Gentilini ging vorweg und bahnte sich einen Weg durch die Menge, Sonja folgte ihm, gewissermaßen in seiner Spur, seinem Windschatten, aber – bildete sie sich das ein, oder hatte in seiner Stimme etwas zutiefst Beunruhigendes mitgeschwungen? Als müsse er sie auf eine schlimme Nachricht vorbereiten und vorher noch ein paar Wattebäusche verabreichen: Bitte, setzen Sie sich doch erst einmal … Wenn sie es sich überlegte, hatte Gentilini bisher eigentlich nichts als schlimme Nachrichten für sie bereitgehalten – die zwei Toten vor der Metzgerei, der ermordete Fotograf, Luzies Foto bei der Leiche, Antonio von der Camorra erschossen – was sollte da noch kommen?
Im Bruchteil einer Sekunde zogen schreckliche Bilder von ihrer Tochter vor ihren Augen auf: Luzie mit verdrehten Gliedern, durchschnittener Kehle, weit aufgerissenen starren Augen, Luzies Leiche am Strand von Santa Lucia, in einem anonymen fensterlosen Raum irgendwo in diesem riesigen, alles verschlingenden Moloch von Stadt, auf einer Müllhalde, in einer Damentoilette, blutige, gruselige Bilder, die aus unablässig produzierten und reproduzierten Fernseh- und Kinofilmen stammten und die kein Mensch in sich tragen sollte, niemals, nirgends.
»Gennaro …!« Sie bekam ihn am Hemd zu fassen. »Bleib doch mal stehn! Ist etwas mit Luzie?«
Er drehte sich irritiert um, dann sah er ihre Panik. »Was ist? Oh, scusami, Sonja. Nein, nichts Neues von Luzie. Mach dir keine Sorgen. Wie dumm von mir. Ich hätte daran denken müssen.«
Er streichelte ihr über die Wange, und sie schloss die Augen. Ein Schaudern lief durch ihren Körper, eine Riesenwoge der Erleichterung, die alle hässlichen Bilder aufsaugte und wegspülte. Als sie die Augen wieder öffnete, stand Gentilini noch immer da, zehn Zentimeter vor ihr, mitten auf der Via Roma. Um sie herum Menschen über Menschen, doch erstaunlicherweise rempelte niemand sie an. Es donnerte erneut, diesmal um ein paar Dezibel lauter.
Sie gingen in eine Bar zwei Querstraßen weiter. Außer einer Minipizza im Stehen beim Warten auf die Funicolare hatte Sonja den ganzen Tag noch nichts gegessen. Sonja bestellte einen überbackenen Toast und ein Glas Wasser, Gentilini trank eine Cola. Im Fernsehen lief stumm die Übertragung eines Autorennens. Ein Mann hing am Tresen und sah gebannt zu.
Sie redeten erst, als sie wieder draußen waren und langsam auf die kleine Grünanlage auf der Piazza Municipio zusteuerten.
»Du wirkst so angespannt.«
»Tue ich das?« Er verzog kurz den Mund. »Wir haben bei einer Razzia einen der beiden Killer geschnappt, die für den Doppelmord in den Quartieri verantwortlich sind, einen Mann namens Benito Abruzzese. Er steht schon eine ganze Weile auf unserer Fahndungsliste. Insofern ein doppelt gelungener Coup. Die Schusswaffe, die er bei sich hatte, ist identisch mit der Waffe, mit der Libero Zazzera erschossen wurde. Im Moment spielt Abruzzese noch stummer Fisch, aber wir haben ihn wegen einer anderen Sache in der Hand und kriegen über kurz oder lang garantiert
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