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Die Toten von Santa Lucia

Die Toten von Santa Lucia

Titel: Die Toten von Santa Lucia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Krohn
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marginal gewesen.
    Gentilini war nach dem Anruf eines Kollegen zurück in die Questura gefahren, Sonja hatte sich ein Taxi kommen lassen. Jetzt zeigte sie einem der Matrosen, die die Tickets kontrollierten, ihren Fahrschein. Über eine steile, schmale Treppe gelangte sie aufs Innendeck. Eine Tür führte nach draußen, eine weitere Treppe aufs nächsthöhere Außendeck. Es waren nicht übermäßig viele Passagiere auf dem Schiff. Ein paar Rucksacktouristen hatten sich schon ihren Schlafplatz gesichert und ihre Schlafsäcke auf den langen Sitzbänken ausgebreitet. Sonja wunderte sich über diesen Zwang, leere Orte augenblicklich zu besiedeln, sich überall sofort ein Stück Land zu sichern, und sei es nur eine winzige Parzelle, von der man sagen konnte: Das ist mein, das verteidige ich, dies ist mein Stück vom Kuchen. Lieber schlief sie im Sitzen.
    Ihr Mutterinstinkt sagte ihr, dass Stromboli die richtige Entscheidung war. Heute Nacht gibt es Meerblick pur, dachte sie, während sie zur Reling ging. Und morgen – morgen finde ich Luzie. Hoffnung, man braucht Hoffnung, eine rettende Planke, auf der es sich ein Stück weit treiben lässt. Wie oft hatte sie das zu ihrer Tochter gesagt: Kopf hoch. Alles wird gut.
    Vom Hafen aus betrachtet wirkte Neapel friedlich, beinahe malerisch mit dem dunklen Castel Nuovo, dem rot getünchten Königspalast und dem weißen Museo di San Martino oben auf dem Hügel. Dazwischen unzählige Häuserdächer, Kuppeln, Terrassen, die Glaskuppel der Galleria Umberto I. Man sah die Gassen nicht. Man sah die Menschen nicht. Nur einen grauen Smogschleier, der alles umhüllte wie eine Haube aus lang nicht mehr geputztem Zellophan. Hatte Sonja die Stadt bei ihrer Ankunft bedrohlich gefunden? Abstoßend? Nicht einmal eine Woche war seither vergangen, aber es kam ihr vor wie eine halbe Ewigkeit. Jetzt, mit Abstand zum Gedrängel, auf einem Schiff, das sie in Kürze von Neapel fortbringen würde, fühlte Sonja ein wenig Wehmut. Neapel kam ihr vor wie eine alte, ehrwürdige, charmante Dame mit vielen Gesichtern. Manchmal verwandelte sie sich in ein blutrünstiges Monster, dann wieder in ein verspieltes Kind oder in einen singenden Commissario …
    Sie schrak zusammen. Direkt über ihr knackte etwas. Sie stand unter dem Lautsprecher, aus dem jetzt unter viel Geknister und Geknacke eine unverständliche Durchsage erscholl: »attenzionepregosipregalasignora dsornedirivolgersiallufficioinformazioni missisdsornepleasecome totheinformationdesk mississoniadsorneplease …«
    Das war ja sie. Wieso wurde ihr Name ausgerufen? Mit fliegenden Fingern öffnete Sonja ihren Rucksack und suchte nach dem Handy – um festzustellen, dass es ausgeschaltet war. Offenbar war der Akku leer. Vittorio hatte ihr das Handy geschenkt, aber an ein Aufladegerät hatten sie in dem emotionsgeladenen Moment beide nicht gedacht. Sie fragte sich zum Informationsschalter durch.
    Der Steward, der auch die Durchsage gemacht hatte, reichte ihr einen Zettel mit einer Nachricht von Commissario Gentilini: Sie solle sofort das Schiff verlassen und ihn kontaktieren.
    Panisch sah sie auf die Uhr.
    »Wie lange ist es noch bis zur Abfahrt?«
    »Drei Minuten, Signora«, sagte der Steward.
    »Kann ich bitte kurz telefonieren? Der Akku in meinem Handy ist leer.«
    »Prego.« Er reichte ihr ein Handy.
    Fluchend, weil sie sie nicht längst auswendig wusste, kramte sie den Zettel mit Gentilinis Mobilnummer hervor. Beim ersten Mal verwählte sie sich prompt. Dann hatte sie ihn am Apparat.
    »Wo bist du?«
    »Auf dem Schiff.«
    »Habt ihr schon abgelegt?«
    »Nein, aber gleich.«
    »Geh sofort von Bord! Deine Tochter hat sich gemeldet! Du hattest Recht. Sie ist tatsächlich auf Stromboli und kommt mit der Nachtfähre zurück. Warte am Kai. Ich schicke einen Wagen.«
    Ungläubig starrte Sonja auf das Handy in ihrer Hand. Luzie hatte sich gemeldet. Das Tuten der Schiffssirene brachte sie zur Besinnung.
    »Ich muss an Land«, schrie sie und warf das Handy auf den Tresen. »Nicht abfahren! Wartet doch!«
    Sie rannte durch die Gänge zu den Treppen, hastete die engen, steilen Stufen nach unten. Die Schiffssirene tutete erneut, Sonja zwängte sich zwischen den Passagieren hindurch, lief über die Rampe, die sich schon einen halben Meter vom Boden gelöst hatte, und sprang an Land. Keinen Moment zu früh, denn als sie sich umsah, lagen schon mehr als zwei Meter zwischen dem Kai und dem Schiff, das langsam Fahrt aufnahm. Ein Streifenwagen fuhr mit Blaulicht über

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