Die Totenfrau des Herzogs
den Fetzen zu befreien. Obwohl die Sonne vom Himmel brannte, zog Ima den Mantel nicht aus, als wollte sie Bohemunds Glück bei sich behalten. Ein alberner Gedanke. Gedankenvoll strich sie über die Webkante. Vielleicht doch nicht so albern. Ihr hölzernes Bett verriet, warum sie gerettet worden war: Es war gewölbt und breit genug für eine Person, und Gérard hatte es geschafft, sie trotz der wilden See mit einem Tau notdürftig daran festzubinden. So hatte das Plankenstück sie über die Wellen getragen wie eine runde, schützende Hand, ohne dass es kentern konnte - und Gérards Tau hatte ihr das Leben gerettet. Hatte das Tau auch für ihn gereicht? Sie wagte es kaum, nach ihm zu suchen.
»Die Herzogin wartet dort hinten unter den Bäumen in
einem Zelt. Wir haben es ihr so komfortabel wie möglich gemacht. Sie wartet nun darauf, dass wir ihren Mann finden …«
»Den finden wir nie …«
Die Sandküste von Otranto bot ein Bild des Grauens.
Übersät von Wrackteilen, Holzstücken, Truhen, Kisten und Segelfetzen, nahm sie immer noch mehr Hinterlassenschaften auf, weiter vorn hatte es sogar ein halbes Schiff an Land gespült. Dazwischen lagen wie schwarze Striche Menschen im Sand - jeder Strich ein Toter. Manche trugen noch ihre Kleidung, anderen hatte das Wasser sämtliche Fetzen vom Leib gerissen, und sie brieten nun in der unerbittlichen Mittagssonne Apuliens. Noch trieb ein leichter Salzgeruch über den Strand. Die Sonne versprach, das bald zu ändern. Sie arbeitete fleißig daran; je näher man den Toten kam, desto mehr bekam man von ihrem Zerstörungswerk mit. Es war ein mühsames und trauriges Geschäft, den langen Strand abzusuchen - und offenbar hatte man das in Otranto erkannt, denn immer mehr Helfer strömten auf den Sand, ausgerüstet mit Handkarren, Harken und Stöcken, um den Wettlauf gegen die Zeit aufzunehmen.
Zwei von Imas Rettern verabschiedeten sich pflichtbewusst, um sich den anderen anzuschließen. Von irgendwoher drang der hohe Gesang eines Priesters. »Eripe me de luto, ut non infigar, eripiar ab iis, qui oderunt me, et de profundis aquarum …« Gottes Beistand war in dieser Situation mehr denn je vonnöten - für die Toten kam er zu spät, doch die Lebenden litten …
»Non me demergat fluctus aquarum, neque absorbeat me profundum, neque urgeat super me puteus os suum …«
Aus dem Zelt der Herzogin war innerhalb kürzester Zeit eine kleine Residenz geworden. Bescheidenheit hatte noch
nie zu Sicaildis’ Tugenden gehört, und selbst hier, wie durch ein Wunder dem Tode entronnen und eigentlich in tiefer Trauer um ihren Gatten, frönte sie ihrer Putzsucht und hatte es geschafft, sich mit angenehmen Dingen zu umgeben.
Seidene Kissen stützten ihren Rücken, ihr Sessel schien zwar aus einem Fischerhaus zu stammen, doch die reich bestickte Seidendecke verbarg die ärmliche Herkunft des Sitzmöbels und hatte es in einen Thron verwandelt, von welchem aus sie, im Zelteingang sitzend, die Sucharbeiten überblicken konnte. Hinter dem Zelt stand noch der Karren, mit welchem man den ganzen Luxus aus Otranto herübergeschafft hatte, ein schweres Zugpferd döste angeschirrt in der Sonne. Bewaffnete sicherten das an allen Seiten offene Zelt, drinnen wurde Wein gereicht, und es duftete nach frisch gekochtem Geflügel.
»Ich hoffe, wir konnten es Euch ein wenig bequem machen, ma dame .« Ein müde aussehender Adliger in gleißend polierter Rüstung - offenbar der Kommandierende von Otranto - verbeugte sich sparsam vor der Herzogin. Sein breites Kreuz verbarg die alte Dame beinah, doch dass sie es für die Umstände bequem hatte, war unübersehbar.
»Habt Dank, Chevalier. Viel lieber wäre mir, Ihr würdet meinen Gatten finden. Dafür säße ich gerne in der Sonne und würde dürsten.« Sie ließ sich von dem Diener Wein in den Becher gießen.
» Ma dame , wir tun unser Bestes, glaubt mir.« Der Kommandant klang eine Spur ungeduldig. Möglicherweise fand er auch, dass seine Männer von Otranto anderes zu tun hatten, als am Strand goldene Kissen auszubreiten. Doch er hielt sich zurück, verbeugte sich stattdessen erneut.
»Aber sicher doch. Mein Gatte hielt große Stücke auf Euch.« Sie trank den Becher in einem Zug leer und rieb sich die Arme, wie es untätige Frauen tun, wenn sie sich
unwohl fühlen. Ganz offensichtlich strengte sie die Unterhaltung an, doch leider gab es außer Warten nichts zu tun für sie. Dann traf ihr Blick Ima. Er gefror zu Eis, kühlte rundum die heiße Mittagsluft
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