Die Totenfrau des Herzogs
sie jemand gezogen hatte, nachdem das Schiff auseinandergebrochen und sie hilflos schreiend in den Wellen getrieben war. Ihr erster Atemzug über den Schrecken der Kälte wäre beinah ihr letzter gewesen, denn mit ihm war sie fast im kalten Wasser versunken. Schreiend und hustend hatte sie daraufhin gerudert und gestrampelt, um kein zweites Mal unterzugehen. Die Tiefe hatte dennoch nach ihr gegriffen, an ihrem Mantel gezerrt und ihr die Schuhe von den Füßen gezogen. Immer wieder war sie dann doch mit dem Kopf unter Wasser geraten und hatte sich nur mit Mühe hochkämpfen können. Mit jedem Zug erlahmten ihre Arme mehr. Sie vergaß zu atmen, wenn ihr Kopf über den Wellen war, aus Angst, weiter Wasser zu schlucken, und geriet in
Panik. Eisige Kälte und Dunkelheit ließen ihre Sinne immer weiter schwinden. Nur das Angstgebrüll der anderen Ertrinkenden hielt Ima wach und am Leben.
Dann hatte sie jemand am Arm gepackt und quer durch eine Welle auf diese Planke gezogen. Eine Hand tastete suchend über ihren Kopf und am Rücken entlang.
»Ima - bist du das? Halt dich fest, Mädchen!«, brüllte es neben ihr. »Halt dich fest und bleib am Leben! Beweg dich nicht!«
Sie krallte ihre Finger in ein Astloch des Holzes - offenbar lag sie auf einem herausgebrochenen Teil des Schiffsrumpfs - und fühlte kaum, wie sich Splitter ins Fleisch arbeiteten und scharfe Kanten die Haut aufrissen. »Dominus pascit me, et nihil mihi deerit …« Das Wasser hatte ihr jegliches Schmerzempfinden genommen, genau wie die Beweglichkeit ihrer Gliedmaßen. Jetzt ging es nur noch darum, jeden Schluck Wasser, den ihr die Wellen ins Gesicht spülten, wieder auszuspucken. Ihr Ohr hatte den Lärm von Sturm und Wasserrauschen ausgeblendet - oder war sie taub geworden? Ihr Körper erstarb Stück für Stück, und wirklich denken konnte sie schon lange nicht mehr.
Die Welt bestand aus Luftholen und der Holzplanke unter ihr - und aus Salz. Salz im Gesicht, auf der Zunge, im Magen, Übelkeit erregendes, böses Salz, das in den Augen brannte, ihr gnadenlos Löcher in die Haut fraß …
»Gott schütze uns!«, brüllte der neben ihr und zog sie mit beherztem Griff noch ein Stück weiter die Planke hoch. Es war Gérard, ihr Körper hatte ihn auch ohne die Stimme erkannt. Verzweifelt ließ sie das Holz los, um nach ihm zu greifen, doch er packte grob ihren Arm, um ihn auf das Holz zurückzudrücken.
»Halt dich fest und lass nicht los, verdammte Närrin!« Die mondlose Sturmnacht schenkte keinen Lichtschimmer, nachdem sämtliche Laternen erloschen waren. »Halt durch,
Ima!« Die Stimme verklang, weil eine weitere Welle über sie hereinbrach und beide nur noch daran dachten, sich an ihrem Holz festzuhalten.
Das Denken verging. Die Kraft folgte. Imas Finger rutschten aus den Löchern, fanden neue Kanten, wo sie sich festklammern konnten. Spuckend und keuchend konnte sie nur den Kopf abwenden, wenn Wasser sie traf - oder Luft holen, wenn ihr das Wasser gerade mal eine Pause ließ.
Dann waren Gérards Hände an ihrem Rücken. Irgendetwas hantierte er da, sie spürte, wie ein schweres Tau auf ihrem Rücken landete und ihr fast die Luft nahm. Protestierend schrie sie auf - närrisch, weil ihr im Tal der nächsten Welle ein Schwall Wasser ins Gesicht und den offenen Mund schwappte. Der Zug um ihren Rücken wurde fester, Gérard brüllte durch das Tosen »… sicher … festgebunden … keine Angst …«
Die Planke trieb den Wellenkamm hoch. Auch hier schrien überall Menschen - dann kam das Geschrei näher … und näher … und plötzlich gab es einen heftigen Ruck, Holz splitterte, dicht vor Ima schrie jemand um Gnade, bis sich seine Stimme überschlug - gleich darauf wurde ihre Planke durch den Zusammenstoß weggeschleudert. Das andere Floß verschwand. Hatte die See es sich geholt?
»Gérard!«, schrie sie, »Gérard! Gérard!«
Da war niemand mehr. Niemand neben ihr, niemand bei ihr, nur die schwere See mit endlosen, gierigen Wellentälern und die ewige, salzige, tödliche Gischt …
Liebevoll gurgelte das Wasser neben ihrem Ohr. Eine kleine Welle versuchte sich an Trost und glitt mit sanften Fingern an ihrer Wange vorbei. Im Rücken strich sie ihr die Haare glatt, schmeichelte dem schlanken Nacken und fuhr dann zärtlich wie ein Liebender jede Kurve ihres Rückens und der Beine nach, bis das Kleid ihre Figur wie eine zweite
Haut umhüllte. Die Welle zog sich leise zurück, verharrte im Meer, schaute voller Zufriedenheit auf ihr Werk. Doch da das
Weitere Kostenlose Bücher