Die Totengräberin - Roman
spielte er den besorgten Bruder. Das alles kam ihr äußerst merkwürdig vor.
»Bitte erzählen Sie mir die ganze Geschichte, Lukas. Alles, was passiert ist. Alles, was Sie wissen.«
Vom Küchenfenster aus beobachtete Magda, wie Lukas und Carolina den Weg hinuntergingen und sich immer
weiter vom Haus entfernten. Als sie hinter einer Wegbiegung verschwunden waren und sie die beiden nicht mehr sehen konnte, trat sie aus dem Haus.
Ganz offensichtlich wollten sie allein sein, es fing also alles wieder von vorn an.
Direkt vor der Terrasse stand die Harley. Langsam ging Magda um die schwere Maschine herum. Als sie noch zur Schule ging, lange bevor sie Johannes kennenlernte, hatte sie einen Freund gehabt, der sechs Jahre älter war als sie und sie immer mit seinem Motorrad von der Schule abholte. Ihre Eltern hatten von ihrem Freund Tommy und von ihren Fahrten auf dem Sozius keine Ahnung. Wenn sich Tommy nicht gerade mit ihr beschäftigte, schraubte er an seinem Motorrad herum. Oft sah sie ihm dabei zu, weil es ihn glücklich machte, wenn sie sich für sein geliebtes Hobby interessierte. Durch Tommy war sie zwar keine Expertin geworden, aber einige technische Grundlagen waren ihr durchaus vertraut.
Den Bremsschlauch sah sie sofort und erfasste außerdem mit einem Blick, welchen Schraubenschlüssel sie brauchte. Im Magazin, wo Johannes sein Werkzeug aufbewahrte, fand sie nach einer Weile auch, was sie suchte.
Lukas und Carolina waren tief im Tal am Bach angekommen. Das leise Rauschen des Wassers wirkte beruhigend. Sie blieben stehen.
»Das ist alles. Mehr weiß ich auch nicht«, sagte Lukas.
Carolina schwieg. Nach dieser Geschichte hatte sie wenig Hoffnung, Johannes jemals lebend wiederzusehen. Denn er war kein Heimlichtuer. Wenn er seine Frau verlassen wollte, hätte er es ihr klar und deutlich gesagt. So wie er es auch bei ihr getan hatte. Wenn er ein neues Leben anfangen
wollte, hätte er kein Geheimnis daraus gemacht. Er war ein Pragmatiker. Fair und sachlich. Er hätte auch seine Firma nicht ruderlos laufen lassen. Nein. Johannes lebte nicht mehr. Aus welchem Grunde auch immer.
»Er ist tot, stimmt’s?«
»Ich weiß es wirklich nicht.«
Carolina zündete sich eine Zigarette an und rauchte schweigend.
»Es ist schwer für Magda«, fuhr Lukas fort. »Sie hat Johannes’ Verschwinden überhaupt noch nicht verkraftet. Momentan glaubt sie, ich wäre Johannes und alles sei in bester Ordnung.«
Daher also der Kuss. Das erklärte einiges.
»Aber Sie können doch nicht ewig diese Komödie spielen?«
»Ewig sicher nicht. Aber vielleicht noch eine Weile, bis es ihr besser geht und sie der Wahrheit ins Gesicht sehen kann. Oder bis man Johannes findet. Tot oder lebendig. Dann muss sie sich mit der Realität auseinandersetzen und hinnehmen, dass es zwei Personen gibt: mich und Johannes.«
»Versprechen Sie mir, dass Sie mir Bescheid sagen, wenn es irgendetwas Neues gibt.«
»Natürlich.«
Carolina hatte das Bedürfnis, sich auf einen Stein zu setzen und nur noch zu weinen. So lange, bis dieses schreckliche Bild eines toten Johannes, der einem mysteriösen Unfall oder Mord zum Opfer gefallen war, aus ihren Gedanken gelöscht war.
Magda löste den Bremsschlauch an der Scheibenbremse oberhalb der Gabel des Vorderrades. Sie schraubte ihn nicht völlig ab, sondern lockerte ihn nur so weit, dass die Bremsflüssigkeit
langsam entweichen konnte. Bei jedem Bremsvorgang ein bisschen mehr.
Es war eine Sache von Sekunden. Anschließend brachte sie das Werkzeug zurück ins Magazin und ging ins Haus, da sie keine Lust hatte, sich von Carolina zu verabschieden.
Über dem Schlüsselschränkchen hing ein Bild von Johannes, Thorben und ihr. Sie hatten es mit Selbstauslöser aufgenommen, als sie mit einem gecharterten Boot nach Sardinien gefahren waren. Thorben war braun gebrannt und strahlte in die Kamera. Und obwohl der Zahnarzt sich mit dem Implantat große Mühe gegeben hatte, konnte sie selbst auf diesem Foto erkennen, dass der linke vordere Schneidezahn etwas grauer als die übrigen war. Mit sechs Jahren war Thorben von einem Karussell auf das Gesicht gefallen. Innerhalb von zwei Tagen wurde der Zahn schwarz. Es war noch ein Milchzahn, aber auch der nachwachsende bleibende Zahn war schwarz. Erst als Thorben zwölf war, tauschten sie den Zahn aus.
Allmählich wurde es wirklich Zeit, dass seine Ferien begannen und er endlich zu Besuch kommen konnte. Magda holte ihren Briefblock und ihren Füllfederhalter, den
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