Die Totengräberin - Roman
Roccia.
Ungefähr dreihundert Meter vor dem Haus klingelte ihr Handy. Lukas’ und Johannes’ Mutter, Hildegard, war am Apparat. Ihre Stimme klang brüchig, als würde ihr jemand seit Tagen mit eiserner Hand die Kehle zudrücken.
»Hallo, Magda«, sagte sie. »Was ist mit Johannes? Ich höre überhaupt nichts mehr von euch, Lukas hat seit drei Tagen nicht angerufen, und ich sterbe vor Sorge.«
»Ach Gott, das tut mir leid«, meinte Magda. »Da haben wir wohl in der Aufregung vergessen, uns zu melden. Nein, es ist alles in Ordnung, Hildegard, alles ist gut, und Johannes ist wieder da. Ich bin nach Rom gefahren und hab ihn gefunden. Sei nicht böse, dass wir dich nicht angerufen haben, aber er ist auch erst seit vorgestern wieder hier.«
»Oh Gott, wie schön! Oh Gott, ich danke dir!«, schluchzte Hildegard. »Das ist der schönste Satz, den ich in meinem ganzen Leben gehört habe! Erzähle, Magda, wie hast du ihn gefunden?«
»Ich habe sämtliche Hotels und jede Menge Restaurants abgeklappert«, sie hörte, wie Hildegard am anderen Ende der Leitung schluckte, »… und bin einfach nur durch die Stadt gewandert und hab die Augen offen gehalten. Habe jedes Gesicht studiert, habe mir vorgestellt, an welchem Ort er sich eventuell aufhalten könnte, und - du wirst es nicht glauben -, ich habe ihn gefunden. Kurz vor Sonnenuntergang am Trevi-Brunnen.«
»Warum hatte er sich nicht gemeldet?«
»Du weißt doch, wie er ist! Sein Handy war ins Wasser gefallen, die Chipkarte zerstört, und er war völlig aufgeschmissen.
Natürlich hätte er sich ein neues Handy kaufen können - das war nicht das Problem -, aber er kannte keine Nummer auswendig. Meine nicht, Lukas’ nicht, nicht die von Kollegen und deine auch nicht.«
»Bitte, gib ihn mir. Ich möchte ihn sprechen.«
»Ich weiß nicht, wo er ist, weil ich gerade nach Hause komme. Jetzt muss ich die Kette unten am Weg aufmachen. Willst du warten, oder sollen wir dich in zehn Minuten anrufen?«
»Ich warte.«
»Meinetwegen. Wie du meinst. Aber ich muss ihn suchen, und das kann dauern. Unser Grundstück ist kein Vorgarten von einem Reihenhaus.«
»Ich weiß. Bitte hole ihn.«
Magda legte den Hörer auf den Beifahrersitz, öffnete die Kette und fuhr mit dem Wagen bis vors Haus.
Hildegard hörte durchs Telefon, wie sie laut »Johannes!« rief.
Auch Lukas hörte ihr Rufen weit entfernt, und es schoss ihm wie ein Dolchstoß durch den ganzen Körper. Er konnte sich nicht erinnern, schon jemals solche Angst gehabt zu haben wie in diesem Moment. Er setzte das Bäumchen schnell wieder an seinen Platz zurück und schaufelte wie ein Besessener Erde über das freigelegte Grab seines Bruders. Wenn sie jetzt näher kam, war alles verloren.
Sie rief erneut. Es klang genauso wie das erste Mal. Daraus schloss er, dass sie am Haus stehen geblieben war, weil sie nicht wusste, wo er sich befand, und nicht auf gut Glück in irgendeine Richtung gehen wollte. Also hatte er wieder ein paar Sekunden gewonnen.
Vielleicht würde sie es sogar aufgeben, ihn zu suchen,
weil sie vermutete, dass er spazieren gegangen war. Bitte, lass sie ins Haus zurückgehen. Bitte.
Aber sie ging nicht ins Haus zurück. Sie rief noch ein paarmal, sah sich suchend um und lief dann los. Direkt auf den Gemüsegarten zu.
Lukas’ Herz schlug wie wild. Er hatte das Gefühl, jeden Moment zusammenzuklappen, und schaufelte, als ginge es um sein Leben.
Sie stand vor ihm, als er gerade die Erde auf dem Grab harkte und ebnete.
»Was machst du denn da?«, fragte sie.
»Ich …, ich habe das Bäumchen neu angebunden«, stotterte er. »Es war ganz schief, und ich hatte Angst, dass es abbricht.«
»Ach so«, meinte sie, »hab ich gar nicht bemerkt. Hier!« Sie gab ihm ihr Handy. »Deine Mutter will dich sprechen.«
Damit drehte sie sich um und ging wieder in Richtung Haus.
Erst jetzt brach Lukas der Schweiß aus. Sie hatte nichts bemerkt oder nichts bemerken wollen. Oder sie kannte das Grab wirklich nicht.
Lukas nahm das Handy ans Ohr.
»Ja, Mutter?«
»Lukas?«
»Ja.«
»Ich wollte eigentlich Johannes sprechen. Magda hat mir gesagt, dass er wieder da ist.«
»Ja, ja, natürlich, na klar, ich meine, ja, er ist wieder da«, stotterte Lukas, »aber im Moment leider nicht, denn er ist nach Ambra gefahren, die Kettensäge schleifen zu lassen. Sie ist stumpf.«
»Es reicht mir«, sagte Hildegard nach einer Pause, »ich
glaube euch beiden kein Wort mehr, denn ich bekomme ihn nie ans Telefon! Da stimmt doch was
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