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Die Totengräberin - Roman

Die Totengräberin - Roman

Titel: Die Totengräberin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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was geschehen war, wieder rückgängig machen.
    »Lass uns nach Hause fahren.« Magdas Ton war dumpf und vollkommen emotionslos.
    »Hast du das nicht gesehen?« Lukas raufte sich die Haare und fuchtelte mit den Armen wild in der Luft herum. »Sie war zu schnell, Magda, sie ist von der Maschine geflogen, ich habe alles gesehen. Aber das hat sie niemals überlebt! Das kann sie nicht überlebt haben!«
    »Ich fahre jetzt nach Hause«, meinte Magda kühl und stieg ins Auto.

    Einen Moment stand Lukas unschlüssig auf der Straße, dann rannte er los. Wie von Sinnen die abschüssige, steile und staubige Schotterstraße hinunter. Renne niemals bergab, hatte ihm seine Mutter immer eingeschärft, dann kannst du nicht mehr anhalten. Carolina war gefahren, und auch sie hatte nicht mehr anhalten können.
    Lukas stolperte über einen Stein, fiel und schlug sich das Knie und die Handflächen auf. Seine Hose war zerrissen, seine blutigen Hände brannten. Aber er rannte weiter. Nach einem Kilometer konnte er nicht mehr und blieb nach Luft ringend stehen. Die Unfallstelle konnte er von hier aus nicht sehen.
    Aber er hörte in weiter Ferne ein Martinshorn. Im normalen Schritttempo ging er bis zur nächsten Kurve und sah ins Tal. Der Notarztwagen der Misericordia quälte sich die enge Serpentinenstraße bergauf, Passanten beugten sich über die am Boden liegende Carolina.

63
    Der Anruf kam um elf Uhr siebenundvierzig. Alfonso nahm ihn entgegen. Er sagte nicht viel, hörte nur zu und meinte schließlich: »Alles klar. Wir kommen.«
    »Was ist?«, fragte Neri.
    »Schwerer Unfall. Eine Motorradfahrerin ist verunglückt.«
    »Wo?«
    »Zwischen Solata und Cennina. Wahrscheinlich ist sie gefahren wie eine Irre und aus der Kurve geflogen.«
    Alfonso und Neri stiegen in ihren Wagen und brausten los. Sechs Minuten später waren sie an der Unfallstelle.
    Der Rettungshubschrauber war gerade gelandet, ein Notarzt und mehrere Sanitäter kümmerten sich um Carolina. Nach wenigen Minuten kam der Arzt zu Neri und Alfonso.
    »Wir können nichts mehr für sie tun. Bestellen Sie einen Wagen, um sie nach Florenz zu transportieren. In die Pathologie.«
    Neri nickte. »Geben Sie uns noch ihre persönlichen Daten, bitte.«
    Der Notarzt reichte ihm den Personalausweis, und Neri notierte sich Carolinas Namen, ihre Berliner Adresse und ihr Geburtsjahr. Alfonso machte ihn noch darauf aufmerksam,
dass es vielleicht nicht verkehrt wäre, für die deutschen Kollegen auch die Personalausweisnummer und das Ausstellungsdatum aufzuschreiben, was Neri schon wieder als unangenehme Bevormundung empfand.
    Obwohl der nächste Ort dreieinhalb Kilometer entfernt war, sammelten sich immer mehr Schaulustige an der Unfallstelle, und Neri wunderte sich, wo die Menschen so schnell herkamen. Aber dann zwang er sich, nicht weiter über unwichtige Dinge nachzudenken, und hörte einem alten Bauern zu, der so laut sprach, dass es einem sogar unter freiem Himmel in den Ohren wehtat.
    »Ich hab mir gleich gedacht, dass das nicht gut geht«, brüllte er. »So wie die die Straße runtergerast ist. Ein Wunder, dass sie die Kurven bis hierher überhaupt geschafft hat.«
    »Haben Sie beobachtet, wie der Unfall geschah?«
    »Leider nicht.« Der Alte sah aus, als bedaure er mehr sich selbst als das Unfallopfer. »Ich stand ja oben am Weg zum Jägerunterstand. Von dort kann man die Kurve nicht einsehen.«
    Neri beschloss, sich nicht weiter mit dem Mann zu unterhalten. Es brachte überhaupt nichts. Im Grunde bestätigte er nur, was alle vermutet hatten: Sie war einfach zu schnell gefahren. Reiner Übermut wahrscheinlich, der Rausch der Geschwindigkeit und der gewisse Kick, ins volle Risiko zu gehen. Obwohl sich Neri nicht so recht vorstellen konnte, dass eine vierunddreißigjährige Frau ein derartiger Hasardeur war.
    »Sie war eine ausgesprochen schöne Frau«, sagte der Arzt zu Alfonso. »Das sind die fürchterlichsten Einsätze, die einem noch lange nachhängen. Wenn sich jemand so sinnlos und unnötig totfährt.«
    Neri dachte nicht voller Mitleid an die verunglückte
Frau, sondern daran, dass ihm die Deutschen in der Toskana allmählich wie eine biblische Plage vorkamen: Sie brachten kleine Kinder um, wurden ermordet, verschwanden spurlos oder brachen sich auf den herrlichen Bergstraßen das Genick. Und er hatte durch sie nur Ärger, Arbeit, Ungemach und das ständige Gefühl, vor unlösbaren Problemen zu stehen. Jetzt musste er mit den deutschen Kollegen Kontakt aufnehmen, was er am

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