Die Totengräberin - Roman
Mal geplatzt.
Diese Schmach und die permanent schlechte Laune seiner Frau verkraftete Neri kaum. Er verlor seinen Appetit und hatte noch nicht einmal Lust auf sein abendliches Glas Wein. Die gemeinsamen Abende mit seiner Frau waren quälend, weil sie ihn ihre Unzufriedenheit unentwegt spüren ließ und ihm bei jeder Gelegenheit deutlich machte, was er für ein Versager war.
Neris ehemals rundliches Gesicht mit dem Stoppelhaarschnitt war mittlerweile in sich zusammengefallen. Seine Wangen waren hohl, und unter seinen Augen lagen dunkle Schatten.
Sein Assistent Tommaso Grotti mit seinem unsäglichen Schluckauf, der ihn jedes Mal überfiel, wenn er aufgeregt war, war in Montevarchi geblieben. Manchmal vermisste er ihn direkt. Wenn ihm seine altklugen Bemerkungen auch auf die Nerven gegangen waren, so war doch oft etwas Wahres daran, denn Tommaso stieß mit seiner bestechend einfachen und fast naiven Logik ab und zu auf Zusammenhänge, auf die Neri allein gar nicht gekommen wäre.
Aber hier in Ambra brauchte er keinen Assistenten. Es gab auch keinen Fall, den er bearbeiten konnte. Er saß in seiner schmucken Uniform in seiner kargen Amtsstube, spitzte seinen Bleistift, trank Kaffee und erledigte öde und ermüdende Bürokratie. So bearbeitete er gerade eine Anfrage des Gutsbesitzers Bataloni, der zusammen mit seiner Frau auf siebzehn Hektar lebte, kein Jäger war, aber dennoch ein Gewehr anschaffen wollte. Zum Selbstschutz, wie er sagte. Schon mehrmals seien mitten in der Nacht Motocross-Fahrer zu seinem Haus gekommen, um einzubrechen. Mithilfe seiner Hunde hätte er sie jedes Mal vertreiben
können, aber er fühlte sich nicht mehr sicher. Vor allem seine Frau ängstigte sich, wenn sie allein war.
Ja und?, dachte Neri, was will er jetzt? Will er jeden Motocross-Fahrer erschießen, der nachts zu seinem Haus kommt? Sicher kamen diese Burschen nicht, um mit Bataloni ein Glas Wein zu trinken, so viel war klar. Aber man musste doch nicht gleich schießen! Wenn Bataloni die Erlaubnis bekam, ein Gewehr anzuschaffen, dann würde auch etwas passieren. Das war Neri bewusst. Und er wollte nicht schuld an diesem Desaster sein. Nicht schon wieder. Also legte er Batalonis Gesuch auf den Stapel ganz links. Das waren die Fälle, die er an seine ehemaligen Kollegen in Montevarchi weiterleitete. An die nächsthöhere Stelle sozusagen mit der Bitte um Bearbeitung.
Langsam begriff Neri, dass er hier in Ambra so gut wie gar nichts mehr entscheiden konnte und durfte. Und sich auch schon gar nicht mehr traute. Er war ein Mensch, für den überall nur Stolperfallen ausgelegt waren.
Er überlegte gerade, ob er die Polizeistation für ein paar Minuten schließen sollte, um auf der Piazza einen Kaffee zu trinken, als es an der Tür klingelte. Neri zuckte regelrecht zusammen, so überrascht war er.
Sein Kollege Alfonso saß im Nebenzimmer und erläuterte einem Deutschen, der kaum Italienisch sprach und immer nur zwei Worte pro Satz verstand, welche Papiere er noch beschaffen musste, um den Permesso di Soggiorno, die befristete Aufenthaltsgenehmigung, zu bekommen. Er hörte ihre Stimmen. Die zögerliche Stimme des Deutschen und die immer aufgeregter und lauter werdende Stimme von Alfonso.
Also stand Neri auf und ging zur Tür, um zu öffnen.
Als sie vor ihm stand, wusste er, dass er sie schon ein
paarmal in Ambra gesehen hatte, aber er hatte noch nie mit ihr gesprochen und konnte sie auch mit keinem Namen verbinden.
»Buongiorno, Comandante«, sagte sie leise und freundlich. »Voglio denunciare la scomparsa di mio marito. Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben. Mein Mann ist verschwunden.« Sie sprach klar, deutlich und grammatikalisch richtig, aber ihr deutscher Akzent war unüberhörbar.
»Bitte, Signora, kommen Sie doch herein.«
Er betrachtete sie genau, als sie sich setzte. Sie sah müde aus, fand er, ihr Teint wirkte beinah durchsichtig, und ihre Haare waren eher nachlässig im Nacken zusammengebunden, was auf ihn aber eine eigenwillige Faszination ausübte. Sie hatte sich nicht extra zurechtgemacht, um die Polizeistation in Ambra aufzusuchen. Das imponierte ihm.
Zuerst nahm er ihre Personalien auf, indem er alle Angaben von der Carta d’Identità abschrieb. Name, Vorname, Adresse, Alter. Sie war einundvierzig. Genauso alt wie Gabriella. Aber ihre Sanftheit gab ihr etwas Mädchenhaftes und ließ sie jünger erscheinen.
»Was ist passiert?«, fragte er schließlich und fühlte sich nach langen quälenden Wochen endlich
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