Die Totengräberin - Roman
Hand überhaupt nicht mehr zufassen, jede Berührung war eine Tortur. Ich scheine ja eine heftige Allergie gegen Hornissenstiche zu haben, dachte sie, vielleicht sogar gegen Insektenstiche überhaupt, das wusste ich ja noch gar nicht.
Der linke Arm ruhte auf ihrem Knie, mittlerweile war die Schwellung über die Hand hinausgegangen und hatte sich über das Handgelenk und den Unterarm ausgebreitet, der bereits aussah wie ein prall aufgeblasener länglicher Luftballon.
Mit der rechten Hand lenkte sie, und wenn sie schalten musste, ließ sie das Steuerrad los. Aber sie schaffte fast den gesamten Weg im zweiten Gang und war heilfroh, dass sie vor dem Haus der Dottoressa eine Parklücke fand, in die sie problemlos vorwärts hineingleiten konnte.
Im Wartezimmer war es - wie immer - voll. Acht Personen waren vor ihr. »Wer ist denn bitte der Letzte?«, fragte sie resigniert, denn sie war sicher, dass ihr Arm platzen würde, bevor sie behandelt werden konnte.
»Ich«, meldete sich eine Frau mit halblangen, dunklen, leicht gewellten Haaren, die Magda genauso alt schätzte
wie sie selbst. Sie glaubte, sie auch schon ein paarmal im Ort gesehen zu haben, aber sie wusste nicht, wer die Frau war. Sie war elegant gekleidet, sorgfältig geschminkt und fiel dadurch im Wartezimmer regelrecht auf. Sie hatte eine gerade Körperhaltung und einen stolzen Blick, den Magda aber nicht als unfreundlich empfand. Alles in allem war sie eine ausgesprochen schöne Frau, die ebenso interessiert Magda begutachtete und wohl auch versuchte, sie richtig einzusortieren.
Beide waren unsicher und lächelten sich an.
Auf einmal ging ein Leuchten über das Gesicht der Frau, als habe sie gerade eine Ahnung bekommen, wer Magda sein könnte.
»Entschuldigen Sie«, fing sie an, »irgendwoher kenne ich Sie. Wohnen Sie zufällig auf La Roccia?«
»Ja, ich wohne auf La Roccia.«
»Dann habe ich schon von Ihnen gehört.« Die Frau lächelte jetzt ein breites, sympathisches Lächeln und reichte Magda die Hand. »Wie schön, Sie endlich einmal kennenzulernen. Piacere. Ich heiße Gabriella.«
»Und ich Magda. In Italien sagt man wohl eher Maddalena.«
Gabriella sah auf den dicken Arm Magdas und die Hand, die sie vorsichtig mit ihrer gesunden rechten festhielt.
»Wollen Sie wegen dieser Hand zur Dottoressa?«
Magda nickte.
»Was ist passiert?«
»Eine Hornisse. Ich habe direkt in sie hineingefasst.«
»Mein Gott, Sie müssen ja hochgradig allergisch sein. Und wenn Sie nicht bald den Ring abbekommen, stirbt Ihnen der Finger ab.«
»Ja, ich weiß. Deswegen bin ich hier.«
»Aber da sind Sie hier falsch. Die Dottoressa kann Ihnen bei so einer Sache nicht helfen, außerdem wissen Sie nicht, wann sie kommt und wann hier die Sprechstunde überhaupt losgeht. Sie ist bei einem Notfall in Bucine. Nein, Maddalena, Sie müssen schleunigst zum Pronto-Soccorso nach Montevarchi. Dort kann man Ihnen auch den Ring aufschneiden!«
Was Gabriella sagte, leuchtete Magda völlig ein, aber es war unmöglich. »Ich kann mit dieser Hand nicht bis Montevarchi fahren.«
»Kommen Sie«, Gabriella stand auf, »ich fahre Sie hin.«
Magda wollte widersprechen, aber Gabriella schob sie schon durch die Tür.
Lukas war zu Tode erschrocken, als er von seinem langen Spaziergang nach La Roccia zurückkehrte und das Haus offen, aber leer vorfand. Keine Nachricht, keine Notiz, nichts.
Während seiner Wanderung war ihm bewusst geworden, in welcher Gefahr er sich befand. Wenn derjenige, der die Leiche gefunden hatte, sein Wissen der Polizei mitteilte und Mordermittlungen begannen, dann war er in ernsthaften Schwierigkeiten. Er hatte eine Liebesbeziehung mit der Frau des Opfers. Seine desaströse finanzielle Situation verstärkte das ohnehin schon starke Motiv noch, denn die Firma seines Bruders lief sensationell gut, Magda war eine wohlhabende Frau und arbeitete nur, weil ihr der Beruf Spaß machte, und nicht, weil sie das Geld brauchte. Er setzte sich also ins gemachte Nest.
Es war vollkommen unklar, wann Johannes umgebracht worden war. Je nachdem, wieviel Zeit noch vergehen würde,
bis die Leiche gefunden wurde, konnte mehr oder minder genau der Todeszeitpunkt festgestellt werden. Wahrscheinlich konnte man ihn auf wenige Tage eingrenzen, sicher nicht auf wenige Stunden. Ein Alibi konnte er für einen derart langen Zeitraum niemals liefern, es war alles möglich. In den italienischen Wäldern und den einsamen Häusern war es kein Problem, den ungeliebten Bruder und Konkurrenten
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